Peter Karlen (59) ist gewissermassen nur ein halber SVP-Bundesrichter. Vor knapp zwanzig Jahren wechselte er nicht nur aus Überzeugung von der FDP zur SVP, sondern auch wegen der Karriere. Bei der FDP herrschte ein Gerangel um Richterposten, bei der SVP Personalknappheit. Mit dem Parteiwechsel verpasste Karlen seiner Laufbahn den entscheidenden Dreh und schaffte es bis zum Bundesrichter. So kommt es, dass Karlen bei der Verhandlung des Kirchenglockenstreits von Wädenswil die Hauptrolle spielen darf.
Als Referent präsentiert er seinen Richterkollegen den Antrag, wie der Konflikt zu lösen sei. Er plädiert dafür, den Viertelstundenschlag von 23 bis 6 Uhr abzuschalten. Damit entscheidet er sich gegen seine Partei, die in richterlich verordneten Ruhezeiten den Untergang der schweizerischen Werte sieht.
Doch der Appell aus der SVP-Zentrale ist gar nicht nötig, um den SVP-Richter zu stoppen. Das unternehmen die vier anderen Bundesrichter von FDP, CVP, SP und Grüne. Nach der ersten Diskussionsrunde merkt Karlen, dass er isoliert ist. Er sagt, er habe seine Meinung geändert. Er zieht seinen Antrag zurück und unterstützt nun den Gegenantrag. Das Bundesgericht entscheidet deshalb, dass alles so bleibt, wie es ist: Die Kirche bleibt im Dorf und jene von Wädenswil darf auch nachts schlagen.
Normalerweise spielt die Parteizugehörigkeit vor Gericht keine Rolle. Doch beim Glockenstreit geht es um eine Abwägung verschiedener Werte. Karlen sagt: «Die juristischen Argumente sind nicht ausschlaggebend. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen gemacht.» Bei sich persönlich meint er allerdings nicht SVP-Werte, sondern seine Wohnumgebung in der Stadt Zürich. In seinem ersten Statement erklärt er, dass der Fall Wädenswil anders als die bisherigen Glockenstreite zu beurteilen sei, weil er in einem Stadtzentrum stattfinde: «Stark lärmvorbelastete Gebiete müssen umso mehr geschützt werden. Eine Einschränkung des Viertelstundenschlags würde hier einiges bringen.»
Man müsse eine Abwägung von Tradition versus Ruhebedürfnis vornehmen: «Das Ruhebedürfnis geht aus meiner Sicht vor.» Das sei der entscheidende Unterschied zu den bisherigen Bundesgerichtsurteilen, die Fälle im Zürcher Oberland betrafen. In Wädenswil seien die Verhältnisse anders, weshalb es keine Praxisänderung sei, wenn das Bundesgericht hier nun anders entscheiden würde.
Karlen vollzieht jedoch nicht nur eine Pirouette, als er zwei Stunden später seinen Antrag zurückzieht und für das Gegenteil plädiert. Schon bei seinem ersten Auftritt nutzt er den grössten Teil seiner Redezeit, um gegen ein Verbot zu argumentieren, und nimmt erst kurz vor Schluss den rhetorischen Bogen, um sich doch dafür auszusprechen.
Zuerst widerspricht er dem Zürcher Verwaltungsgericht, gemäss dem die nächtliche Zeitangabe keinem Bedürfnis entspreche. Karlen erinnert sich an seine eigenen schlaflosen Nächte und sagt: «Wenn man im Bett liegt, ist der Viertelstundenschlag für viele Leute ein vertrautes Signal, dass die Welt in Ordnung ist.»
Im Gerichtssaal herrscht verkehrte Welt. Der SVP-Richter spricht sich nach einer Interessensabwägung gegen die Tradition aus. Der SP-Richter, Lorenz Kneubühler, verteidigt sie: «Die Kirche von Wädenswil steht seit drei Jahrhunderten. Das Ehepaar hätte sich vor dem Umzug informieren sollen.» Karlen greift den SP-Kollegen für diese Aussage persönlich an und wirft ihm eine «Entgleisung» vor.
Nancy Holten, Sprecherin der IG Stiller, die Lobbyorganisation der Lärmgegner, sagt über Karlen: «Das ist ein sehr seltsamer Meinungsumschwung.» Es sei eine Frage der Zeit, bis das Bundesgericht umschwenke: «Das Gewicht der Kirche schwindet von Jahr zu Jahr.»Peter Meier, Präsident der reformierten Kirche von Wädenswil, kann hingegen der inneren Zerrissenheit des SVP-Richters Positives abgewinnen: «Das Bundesgericht ist ein Abbild der Bevölkerung. Auch sie ist gespalten.» Als er den Satz im Gang des Bundesgerichts sagt, huscht Karlen an ihm vorbei. Meier zieht seinen Hut und sagt: «Danke.» Am Schluss zählt nur das Resultat der Verhandlung. Misst man Karlen daran, ist er ein ganzer SVP-Bundesrichter.