Der erste Schultag: alles neu, vieles spannend, manches einschüchternd. Wer sich erinnert, kennt die Hürden des Schulstarts. Doch nur wenigen ist bewusst, dass die ältere Hälfte der Kinder mit einem entscheidenden Vorteil das Klassenzimmer betritt. Sie haben mehr Lebenserfahrung und sind in ihrer Entwicklung oft deutlich weiter als ihre Klassenkameraden. In der Schweiz sind die jüngsten Erstklässler in der Regel 5½ Jahre alt, die ältesten 6½. Zwölf Monate Vorsprung, die ein Leben prägen können.
Entscheidend ist der Zeitpunkt der Einschulung. Je nach Kanton liegt der Stichtag zwischen dem 31. April und dem 31. Juli. Der Effekt ist überall der gleiche: Jene, die kurz vor dem Stichtag Geburtstag haben, werden immer die Jüngsten in einer Klasse sein. Wer kurz danach feiert, wartet fast ein weiteres Jahr bis zur Einschulung – und ist weiter in seiner intellektuellen, emotionalen und sozialen Entwicklung. Spätsommer- und Herbstkinder sind die Gewinner, Frühjahreskinder die Verlierer. Oder um ein altes Sprichwort umzuschreiben: Wer am falschen Tag zur Welt kommt, den bestraft das Leben.
Eine Auswertung der «Schweiz am Wochenende» zeigt, dass dieser sogenannte relative Alterseffekt bis ins Gymnasium anhält. In fast allen Kantonen schaffen es die älteren Kinder eines Schuljahrgangs eher an die Mittelschule als ihre jüngeren Klassenkameraden. Schweizweit beträgt der Effekt zehn Prozent, das heisst, in den Mittelschulen ist die ältere Hälfte des Jahrgangs um zehn Prozent übervertreten. In manchen Kantonen ist der Effekt noch grösser: In Bern liegt der Unterschied bei 34 Prozent, in Schwyz bei 32, und in Baselland bei 22. Ähnlich sieht es im Aargau (22 Prozent) und Zürich (18) aus (siehe Tabelle).
Es gibt nur wenige Ausnahmen wie in Genf, wo die Jüngeren in einer Klasse überwiegen. Dass der relative Alterseffekt dort nicht sichtbar wird, liegt auch daran, dass es im Kanton keine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gibt. Fast 60 Prozent der Schüler werden zugelassen. Es beginnen demnach viele schwächere Jugendliche die Matura. Das beweist die Abbruchquote: 54 Prozent der Genfer Gymnasiasten machen gemäss Schweizer Bildungsbericht keinen Maturabschluss – landesweiter Negativrekord.
Trotz den Zahlen ist der relative Alterseffekt in der Bildungsdebatte eine Randerscheinung. Selbst Experten ist das Phänomen oft nicht bekannt. Dabei wurde der Effekt mehrfach im Nachwuchssport nachgewiesen. So sagte Dieter Baur, Leiter der Volksschulen in Basel-Stadt, kürzlich zur «Schweiz am Wochenende»: «Dieser Effekt ist mir neu. Auch die meisten Lehrpersonen dürften noch nie davon gehört haben.» Dabei wäre eine Debatte sinnvoll, denn das Problem wird sich verschärfen.
Der Stichtag für den Kindergarteneintritt wurde zuletzt nach vorne verschoben. Die jüngsten Kinder sind heute lediglich 4 Jahre und ein paar Wochen alt, wenn sie den Kindergarten besuchen – und dementsprechend jünger, wenn sie danach das erste Mal ein Klassenzimmer betreten. Das verstärkt den Effekt, denn je jünger die Schüler sind, desto grössere ist der Unterschied in der Lebenserfahrung – und desto anfälliger sind sie: Schlechte Beurteilungen der Lehrer haben einen starken Einfluss auf die weitere Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. «Wer früh schlecht bewertet wird, verliert schneller das Selbstbewusstsein und das Interesse an der Schule und am Schulstoff», sagt Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. Oft sind die Jüngeren davon betroffen, weil sie mit der neuen Umgebung mehr Mühe haben.
Ein Grund, warum sich der Alterseffekt bis ins Gymnasium halten kann, liegt an der frühen schulischen Weichenstellung. Schon nach der 6. Klasse wird in vielen Kantonen direkt oder indirekt über den Eintritt in das Gymnasium entschieden. Sei es durch den Übergang ins Langzeit-, Untergymnasium oder in die Sekundarstufe. «Wer dann nicht zu den Besseren gehört, hat es schwerer, die Matura zu machen», sagt Stefan Wolter, Bildungsökonom des Bundes. Für die Chancengleichheit wäre es deshalb am besten, wenn die Entscheidung möglichst spät fällt. Allerdings gebe es Eltern, die beklagen, dass ihre Kinder gebremst würden, wenn die Klassen erst spät nach Leistung separiert werden.
Andere Länder sind in der Debatte weiter. In England wurde vor zwei Jahren im Parlament über Massnahmen diskutiert. Dort ist der Stichtag der 31. August. Somit sind die im August geborenen Kinder die jüngsten einer Klasse, die im September geborenen die ältesten. Eine Untersuchung der Nuffield Foundation aus London zeigte, dass August-Kinder in den Hauptfächern Lesen, Schreiben und Mathematik dreimal häufiger ungenügende Noten nach Hause bringen als die im September geborenen. Ausserdem werden die jüngsten doppelt so oft gemobbt und fühlen sich in der Schule weniger wohl als ihre älteren Klassenkameraden.
Untersuchungen in anderen Ländern kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Aus Südeuropa ist bekannt, dass die Klassenjüngsten eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit haben, eine Klasse wiederholen zu müssen. Ausserdem wird bei den Kleinen häufiger ADHS diagnostiziert. Trotzdem ging der Einschulungstrend in der Schweiz in den vergangenen Jahren meist nur in eine Richtung: Je früher, desto besser, dachten sich viele Eltern.
Selbst wenn Lehrer und Schulen um den Effekt wissen, ist es schwierig, ihm entgegenzuwirken. Einen Stichtag wird es immer geben. Jüngere Kinder einer Klasse weniger streng zu benoten, ist im Schulalltag kaum umsetzbar, weil alle die gleichen Lernziele erreichen müssen. Im Nachwuchssport gibt es die Idee des wechselnden Stichtages: So würden die Jüngsten in der nächsten Klasse die Ältesten – und umgekehrt. Doch das ist ebenso schwer umzusetzen.
In England kamen die Behörden zum Schluss, die Rechte der Eltern zu stärken. Falls ihr Kind zu den jüngsten einer Klasse zählen würde, dürfen sie selber entscheiden, ob sie ihr Kind einschulen oder noch ein Jahr warten. In der Schweiz können Eltern in den Gemeinden ihre Bedenken kundtun, die Entscheidungshoheit liegt aber – anders als in England diskutiert – nicht bei ihnen.
Trotz der verschiedenen Studien darf der relative Alterseffekt gemäss Experten nicht überschätzt werden. Urs Moser, Bildungsforscher an der Universität Zürich, relativiert: «Es sind verschiedene Faktoren, die den Schulerfolg eines Kindes prägen», sagt er. Der Altersunterschied – isoliert betrachtet – sei sicherlich nicht entscheidend. Heute gebe es in mehreren Kantonen altersdurchmischte Klassen. Viele Kinder würden davon profitieren, nicht darunter leiden. Auch Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm weist darauf hin, dass sich eine frühe Einschulung gerade bei begabten Kindern positiv auswirkt.
Das Thema steht bald auf der Agenda der Schweizer Bildungspolitik. Im Frühling erscheint der alle vier Jahre publizierte nationale Bildungsbericht. Darin wird der relative Alterseffekt an Schweizer Schulen erstmals genauer beleuchtet.
Der körperliche Unterschied bereitete mir mehr Sorgen als die schlechten Schulleistungen. Das macht sich dann aber eher so gegen 6-7 Schulklasse bemerkbar, wenn körperliche Veränderungen später eintreten als bei den Mitschülern - Schwanzvergleich halt ;)