EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker trifft Alain Berset am WEF nicht. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat keine Zeit für den Bundespräsidenten. Möglich ist immerhin, dass es zu einem Treffen kommt zwischen Berset und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Am WEF in Davos, so viel scheint klar, wird sich die Spannung im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU nicht in Luft auflösen. «Unsere Europapolitik wird nicht in Davos gemacht, auch sind wir nicht auf das WEF angewiesen, um Regierungsvertreter aus der EU zu treffen», betonte Bundespräsident Berset in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». «Jean-Claude Juncker und ich sprechen jederzeit miteinander, wenn es nötig ist.»
Noch ist dies aber nicht nötig. Denn noch hat der Bundesrat seine Position für die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU nicht geklärt. Dazu muss erst Ignazio Cassis die Ideen einbringen, die er in seinen ersten hundert Tagen als Aussenminister ausgebrütet hat. Cassis sei «gut gestartet», sagte Berset. «Er unterbreitet der Gesamtregierung in nächster Zeit Vorschläge, wie es in der Europapolitik weitergehen soll.»
Dies wird schon Ende Januar, kurz nach dem WEF, geschehen. Einen ersten Testlauf für seine Ideen hatte Aussenminister Cassis am Freitagabend im Albisgüetli vor der SVP. Der Tessiner Bundesrat propagierte dabei erneut einen «Reset» – also einen Neustart – für das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU. Dieser Reset beginnt beim Namen. Schon kurz vor Didier Burkhalters Rücktritt hatte das Aussendepartement (EDA) das Abkommen intern vorübergehend zum «Konsolidierungsabkommen» umgetauft. EU-Präsident Juncker nannte es dann bei seinem Besuch im November «Freundschaftsvertrag».
Im Albisgüetli sprach Cassis neu von einem «Marktzugangsabkommen». Mit dem Abkommen wolle die Schweiz ihren Wohlstand sichern, betonte er: «Dazu brauchen wir einen möglichst guten Marktzugang zu unseren Nachbarn. Nennen wir doch das Kind beim Namen: Wir wollen ein ‹Marktzugangsabkommen›.»
Ein wesentlicher Teil dieses Resets ist der Mechanismus der Streitbeilegung zwischen der EU und der Schweiz. Die EU hat dazu ein neues Modell ins Spiel gebracht, wie die «NZZ» berichtete. Es soll der Schweiz politisch eine Brücke bauen und die Problematik der «fremden Richter» entschärfen. Beim Modell geht es um ein dreiköpfiges internationales Schiedsgericht. Die Schweiz und die EU könnten dafür je einen eigenen Richter bestimmen, einen dritten Richter würden die EU und die Schweiz gemeinsam auswählen.
Das Schiedsgericht müsste zuerst entscheiden, ob in einem Streitfall zwischen Bern und Brüssel unmittelbares EU-Recht tangiert ist. Ginge es um die Auslegung von bilateralem Recht, könnte das Schiedsgericht ein eigenes Urteil fällen. Ginge es um Auslegung von EU-Recht, müsste der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Beurteilung abgeben.
Cassis selbst arbeitet gemäss «NZZ am Sonntag» an einer weiteren Variante. Sie sieht das Bundesgericht in einer zentralen Rolle. Es soll dann als oberste Instanz angerufen werden können, wenn sich ein Rechtsstreit mit der EU in der Schweiz abspielt. Betrifft der Fall EU-Recht, wird sich das Bundesgericht in der Regel an der Rechtsprechung des EuGH orientieren. Es könnte aber, geht es nach Cassis, Schweizer Recht im Einzelfall höher gewichten. Sollte die EU mit einem entsprechenden Urteil des Bundesgerichts nicht einverstanden sein, könnte sie Sanktionen ergreifen. Dann käme das Schiedsgericht zum Zug, das aus drei Personen besteht. Es würde entscheiden, ob die «Ausgleichsmassnahmen» gerechtfertigt sind.
Bei der SVP stossen beide Lösungen auf keine Gegenliebe. «Wir lehnen den Streitbeilegungsmechanismus gemäss Verhandlungsmandat vehement ab», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. «Der Status quo ist gegenüber der nun angestrebten Lösung – einem Schiedsgericht, in welchem EU-Richter sitzen – klar überlegen.» Und in Sachen Bundesgericht wird Aeschi noch deutlicher: «Das scheint mir ein Rohrkrepierer zu sein», sagt er. «Wer wäre denn zum Beispiel für Fragen um Arbeitslosengelder zuständig bei einem Grenzgänger, der in der Schweiz arbeitet, aber in Deutschland wohnt?»
Überhaupt scheint die SVP nur bedingt glücklich über den Auftritt von Cassis. «Man konnte spüren, dass Herr Cassis bestrebt ist, beim Rahmenabkommen unseren Forderungen entgegenzukommen», sagt Aeschi zwar. Doch habe sich auch gezeigt, «dass die Verwaltung seit seinem Hearing bei uns vor der Bundesratswahl schon stark auf ihn eingewirkt hat.» Cassis habe «etwas festgefahrener» gewirkt.
Dass Ignazio Cassis die Option des unabhängigen Schiedsgerichts prüfen will, wie er am Freitag vor der SVP betonte, fällt hingegen sowohl bei der CVP wie bei der FDP auf fruchtbaren Boden. «Die CVP spricht sich für eine Streitschlichtung nach einem Modell des Efta-Gerichtshofs oder eine Schiedsgerichtslösung aus, wo die Interessen der Schweiz durch einen Schweizer Richter gewahrt werden», hielt die Fraktion im Anschluss an eine Klausur in Luzern in einer Mitteilung fest.
Auf Linie befindet sich Ignazio Cassis mit dem Schiedsgericht auch mit der eigenen Partei. FDP-Präsidentin Petra Gössi hatte schon früher ein «unabhängiges, paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht» als Alternative zum EuGH ins Spiel gebracht. Keine Probleme erhält Cassis in Sachen Schiedsgericht mit der SP: Sie kann auch mit dem EuGH leben als letzte Schiedsgerichts-Instanz. (aargauerzeitung.ch)