Ein Jahr nach der knappen Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist die Umsetzung in der Schwebe. Der Bundesrat hatte eine Gesetzesvorlage für den letzten Dezember angekündigt, später für den Januar. Dieser ist vorbei und noch immer hat sich die Landesregierung nicht zu einem Entscheid durchringen können. Dafür reist Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga heute nach Brüssel und trifft die Führung der Europäischen Union.
Das Verhältnis Schweiz-EU hat sich in letzter Zeit merklich abgekühlt. Neben der SVP-Initiative gibt es weitere Baustellen. Die Schweiz befindet sich dabei in einer schwierigen Lage, sie tritt in den meisten Fällen als Bittstellerin auf. Ein Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten:
Die Bundespräsidentin will die neue EU-Führungsriege treffen. Auf dem Programm stehen Gespräche mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz. Im Zentrum steht die Personenfreizügigkeit. Nach der Annahme der Zuwanderungsinitiative hat Bern ein Gesuch um eine Neuaushandlung des Abkommens nach Brüssel geschickt.
Ein Verhandlungsmandat hat der Bundesrat aber so wenig verabschiedet wie die Umsetzungsvorlage. Beobachter gehen davon aus, dass Simonetta Sommaruga in Brüssel den Spielraum für mögliche Lösungen ausloten will.
Die frühere EU-Kommission hat Verhandlungen ausgeschlossen. Sie hat sich einzig zu Gesprächen über Probleme bei der Umsetzung des Freizügigkeitsabkommens bereit erklärt. An dieser harten Linie dürfte sich bis zu den Unterhauswahlen in Grossbritannien im Mai nichts ändern. Auch auf der Insel wird die Personenfreizügigkeit zunehmend in Frage gestellt.
Ob die EU danach flexibler sein wird, scheint fraglich. Einer Änderung des Abkommens müssten alle 28 EU-Mitgliedsländer zustimmen, auch jene in Osteuropa, die die Schweiz vor drei Jahren mit der Aktivierung der Ventilklausel verärgert hat. Es gilt deshalb bereits als Erfolg, wenn Sommaruga und Juncker sich am Montag auf besagte Gespräche auf Diplomatenebene einigen würden.
Die Masseneinwanderungsinitiative verlangt eine Beschränkung der Zuwanderung mit Kontingenten und einem Inländervorrang. Beides ist mit der Personenfreizügigkeit nicht kompatibel. Der Bundesrat tut sich deshalb schwer mit der Umsetzung. Gemäss der «NZZ am Sonntag» soll die Vorlage zwar Bestimmungen über Höchstzahlen und Regelungen zum Inländervorrang enthalten. Der Bundesrat will aber auch betonen, dass eine Beschränkung für EU-Bürger nur über eine Anpassung des Freizügigkeitsabkommens erreicht werden kann. Er werde deshalb «viele enttäuschen», so die «NZZ am Sonntag».
Als Mittel zur Drosselung der Zuwanderung wird eine Schutzklausel ins Spiel gebracht. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann will diese laut «SonntagsZeitung» der EU schmackhaft machen. Der Bundesrat soll demnach eine Obergrenze für die jährliche Einwanderung festlegen. Wird sie überschritten, kämen Kontingente zum Zug. Es scheint allerdings fraglich, dass die EU angesichts der tiefen Arbeitslosigkeit in der Schweiz einer solchen Schutzklausel zustimmen wird.
Seit 2007 laufen Verhandlungen über ein Abkommen, das der Schweiz den Anschluss an den EU-Elektrizitätsmarkt ermöglichen soll. Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wurden sie auf Eis gelegt. Nun aber drängt die Zeit, denn ab Juli wird die EU mit der so genannten Marktkoppelung den Strombinnenmarkt weiter vertiefen. Die Schweiz droht von dieser Entwicklung abgeschnitten und auf den Status eines Drittstaats abgestuft zu werden.
Bundesrätin Doris Leuthard hat deshalb letzte Woche mit EU-Energiekommissar Miguel Cañete eine Übergangslösung erörtert. Eine solche scheint möglich, «allerdings mit harten Bedingungen», so Leuthard. So müsste die Schweiz bis im Sommer die staatlichen Beihilfen für Stromkonzerne eliminieren, was angesichts der hiesigen Abläufe aussichtslos erscheint. Ausserdem wäre das Abkommen bis Ende 2016 befristet. Gibt es bis dann keine Lösung beim institutionellen Rahmenabkommen (inklusive Personenfreizügigkeit), ist die Schweiz wieder draussen.
Der Berner Besuchsreigen in Brüssel geht am Freitag weiter, dann trifft Staatssekretär Yves Rossier den neuen EU-Chefdiplomaten Maciej Popowski. Im Zentrum steht das institutionelle Rahmenabkommen, von dem die Zukunft des bilateralen Weges abhängt. Stein des Anstosses ist vor allem die geplante Rolle des EU-Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung. Die SVP schiesst schon heute aus vollen Rohren gegen die «fremden Richter».
Als Alternative wird laut der Zeitung «Schweiz am Sonntag» die Option Efta-Gerichtshof geprüft. Bei der Freihandelszone Efta ist die Schweiz Mitglied, neben Island, Liechtenstein und Norwegen. EU-Energiekommissar Cañete soll das so genannte «Norweger Modell» beim Treffen mit Doris Leuthard für das Stromabkommen ins Spiel gebracht haben. Das Efta-Gericht könnte eine Annahme des Rahmenvertrags für das Schweizer Stimmvolk leichter verdaulich machen. Ob sich die Europäische Union darauf einlässt, scheint jedoch fraglich.
Angesichts des Zeitdrucks (Stromvertrag, dreijährige Übergangsfrist bei der Zuwanderung) scheint es immer wahrscheinlicher, dass es 2016 zum grossen Showdown an der Urne kommen wird. SVP-Vordenker Christoph Blocher mobilisiert schon heute seine zugewandten Orte für den Kampf gegen den Rahmenvertrag. Er möchte das Verhältnis Schweiz-EU auf den Status des Freihandelsabkommens von 1973 zurückstufen.
Rückenwind erhielten die Anhänger des Bilateralismus durch eine Umfrage vom Wochenende, wonach eine Mehrheit der Bevölkerung die Beibehaltung der bilateralen Verträge mit der EU der Umsetzung der SVP-Zuwanderungsinitiative vorziehen würde. 52 Prozent können sich sogar eine weitere Annäherung an die EU vorstellen. Solche Umfragen sind allerdings nur Momentaufnahmen. Je nach Wirtschaftslage kann sich die Befindlichkeit schnell wieder ändern.