Das Thema Zuwanderung lässt die Schweizer Politik nicht los. Vor einem Jahr verabschiedete das Parlament die Umsetzung der SVP-Masseneinwanderungsinitiative. Diese beschränkt sich auf einen selektiven Arbeitslosenvorrang, dafür verletzt sie das Freizügigkeitsabkommen mit der EU nicht. Ein Versuch, die Umsetzung mittels Referendum vors Volk zu bringen, scheiterte kläglich.
Vom Tisch ist das Thema deswegen nicht. Im Raum steht die im Oktober 2015 eingereichte Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse» (RASA). Sie will den Zuwanderungsartikel 121a in der Bundesverfassung ersatzlos streichen. Im Parlament stösst diese Tabula-RASA-Initiative auf wenig Gegenliebe. Der Nationalrat empfahl sie im September ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung.
Am letzten Donnerstag folgte ihm der Ständerat, obwohl die Befürworter eines Gegenvorschlags alles versuchten. Sie stören sich an der Diskrepanz zwischen dem Verfassungsartikel mit Kontingenten und Inländervorrang und der rudimentären Umsetzung. Auch der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die gegen den Artikel verstossen, soll nicht mehr verboten sein.
Besonders vehement warb der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch für den Gegenvorschlag. «Er soll uns ein verfassungsmässiges Dach geben, das im Nachhinein wenigstens erlaubt, was wir vor einem Jahr getan haben. Er soll eine nichtverfassungskonforme Umsetzung verfassungskonform machen.» Sein Votum gipfelte im Aufruf: «Lassen Sie das Volk entscheiden!»
Die kleine Kammer hatte dafür kein Musikgehör, sie lehnte den Gegenvorschlag im Verhältnis 2:1 und die RASA-Initiative mit 34 zu 6 Stimmen bei 4 Enthaltungen ab. Am nächsten Freitag findet die Schlussabstimmung statt, danach müssen die Initianten entscheiden, ob sie am Volksbegehren festhalten wollen. Mitinitiant Thomas Geiser stellt einen Entscheid noch vor Weihnachten in Aussicht.
Im September hielt das RASA-Komitee fest, dass die Initiative «nicht zurückgezogen wird, wenn das Parlament ihr keinen direkten Gegenvorschlag entgegensetzt». Der Druck aber ist enorm, das Volksbegehren zurückzuziehen. «Ich werde derzeit von zwei Arten von Leuten kontaktiert: Von Journalisten und von Politikern, die uns die Hölle heiss machen», sagt Geiser lachend.
Die Furcht vor einer Abstimmung über die RASA-Initiative, die vermutlich am 10. Juni 2018 stattfinden würde, ist nicht unbegründet. Mehrere Gründe sprechen für einen Rückzug: Die Initiative könnte als Zwängerei empfunden werden. Das Ständemehr dürfte eine unüberwindbare Hürde sein. Und die Umsetzung, so rudimentär sie sein mag, hat den «Leidensdruck» gemindert. Ein klares Nein zu RASA würde nur der SVP nützen, fürchten die Kritiker der Initiative.
Thomas Geiser gibt sich unbeirrt: «Ich habe von keiner Partei ausser der SVP eine Begründung gegen RASA gehört, nur warum man nicht abstimmen soll.» Für den St.Galler Rechtsprofessor bleibt das Grundproblem ungelöst. Ihm ist besonders das Verbot neuer völkerrechtlicher Verträge ein Dorn im Auge: «Es schränkt die Schweiz in ihrer Handlungsfähigkeit massiv ein.»
Aus der Bevölkerung höre er andere Stimmen als aus der Politik, betont Geiser: «49,7 Prozent waren gegen die Masseneinwanderungsinitiative. Die werden nicht einfach ihre Meinung ändern.» RASA habe gute Aussichten, zumindest das Volksmehr zu schaffen, glauben die Initianten.
Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich. Dies zeigt ein «Präzedenzfall»: Im März 2001 kam die Volksinitiative «Ja zu Europa» der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS) zur Abstimmung. Auch sie wollte das Land aus einer Sackgasse führen, in die es sich mit dem Nein zum EWR-Beitritt rund acht Jahre zuvor manövriert hatte. Sie forderte den Bundesrat auf, «ohne Verzug» Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen.
Die Debatte weist verblüffende Parallelen zur heutigen auf. Auch damals hatten die Initianten um den kürzlich verstorbenen früheren FDP-Nationalrat Marc F. Suter vergeblich auf einen Gegenvorschlag des Parlaments gehofft. Auch damals waren sie mit dem gefundenen «Ausweg» in Form der ein Jahr zuvor angenommenen bilateralen Verträge I nicht zufrieden.
Und auch damals wurden die Initianten eindringlich vor einer Abstimmung gewarnt. Obwohl sie mit einer Niederlage rechneten, hielten sie an ihrem Volksbegehren fest – und scheiterten noch deutlicher, als sie selbst befürchtet hatten. Nur 23,3 Prozent sagten «Ja zu Europa». Auch die Westschweizer Kantone, die den EWR teilweise klar befürwortet hatten, lehnten die Initiative ab.
Bei den Initianten herrschte Katerstimmung, während Christoph Blocher und die SVP jubelten. Konkrete Folgen hatte das Nein kaum, das Stimmvolk bestätigte vielmehr wiederholt den bilateralen Weg, bis zum ominösen 9. Februar 2014. Psychologisch allerdings wirkte das Debakel sehr wohl, es trug dazu bei, dass kaum noch eine Partei den EU-Beitritt anstrebte.
Thomas Geiser betont, dass zwischen «Ja zur Europa» und RASA ein entscheidender Unterschied bestehe. Die Initiative von 2001 habe den Beitritt zur EU angestrebt. «Wir hingegen wollen nur den Verfassungsartikel 121a streichen.» Damit kommen man eigentlich gerade jenen Parteien entgegen, die ständig einen Abbau von Regeln und Gesetzen fordern, meint Geiser süffisant.
Damit dürfe er kaum Gehör finden. Vielmehr müssen die RASA-Initianten damit rechnen, dass sie einen allfälligen Abstimmungskampf weitgehend allein bestreiten müssen. Die Wirtschaft und ihre Verbände werden sich – auch finanziell – kaum engagieren. Von den Parteien haben bislang einzig die Grünliberalen Zustimmung zu RASA signalisiert. Die SP als potenziell stärkster Partner hingegen empfahl im Frühjahr den Rückzug, weil die Initiative ihren Zweck erfüllt habe.
Den Entscheid wird das elfköpfige Initiativkomitee fällen. Stimmt eine Mehrheit für den Rückzug, ist RASA vom Tisch. Thomas Geiser lässt im Gespräch durchblicken, dass er durchaus Lust auf einen Abstimmungskampf hätte.