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Das Parlament: Es trauerte um Kollegen und kuschte vor dem Volk

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Das Parlament: Es trauerte um Kollegen und kuschte vor dem Volk

Das Parlament fällte Entscheide, die lange undenkbar waren. Seine Entscheide und seine Grenzen – eine Bilanz.
10.10.2015, 14:4411.10.2015, 11:54
Anna Wanner und Lorenz Honegger / Aargauer Zeitung
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Mitten im Wahlkampf der Kraftakt: Der Ständerat verabschiedete in der letzten Session die Altersreform und die Energiestrategie. Beide Vorlagen zählen zu den gewichtigsten der letzten vier Jahre – und wurden kurz vor Abschluss noch eingetütet.

Energiewende

Drei Tage nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima sistierte der Bundesrat Gesuche für neue Atomkraftwerke. Das war am 14. März 2011. Nach zwei Monaten beschloss er die Stilllegung der bestehenden Meiler, sobald diese als nicht mehr sicher gelten. Ein halbes Jahr später wurde ein neues Parlament gewählt, das die Energiewende einläutete, das den Atomausstieg bestätigte. Damit dies auch gelingt, entwarf Bundesrätin Doris Leuthard die Energiestrategie 2050: Mehr Energieeffizienz, mehr erneuerbare Energie, Stärkung der Wasserkraft. Das Parlament hat zuletzt aber den Mut verloren und davon abgesehen, den Ausstieg aus der Atomenergie zeitlich festzulegen. Der definitive Entscheid fällt in der kommenden Legislatur. (wan)

Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Parlament bei wichtigen Weichenstellungen gar nicht immer selbst bestimmen konnte: Die Beschränkung der Zuwanderung, die Auflösung des Euromindestkurses und der automatische Informationsaustausch waren Entscheide, die ausserhalb des Parlaments gefällt und ihm aufgezwungen wurden.

Asyl

Seit Jahren verändern sich die Fluchtgründe, die Wege und die Destinationen je nach Konfliktsituation. Die Asylgesuche stiegen in der Schweiz 2011 und 2012 markant an, die Zahl der Personen im Asylprozess lag in den letzten vier Jahren zwischen 40'000 und 48'000. Zu lange Verfahren blockierten das System. Seither steht
das Asylwesen unter Dauerbeschuss. Bereits zu Beginn der Legislatur stritten sich die Parlamentarier über die Wegsperrung renitenter Asylsuchender, über echte und unechte Flüchtlinge und über die schnellere Abhandlung von Gesuchen. Einzelne Pflöcke wurden eingeschlagen: Das 48-Stunden-Verfahren für Kosovaren, Abschaffung des Botschaftsasyls und beschleunigte Verfahren in den Bundeszentren. Nun will die SVP per Referendum diese Reformen rückgängig machen. Inwiefern
die Schweiz zur Destination syrischer Flüchtlinge wird, hängt weitgehend von Europa ab. (wan)

Wirtschaft

Abgesehen von der Bürde der ungewissen Zukunft mit dem wichtigsten Handelspartner kam Anfang Jahr ein neuer Schock für den Wirtschaftsplatz hinzu: Die Auflösung des Euro-Mindestkurses, bekannt als «starker Franken». Die politisch unabhängige Nationalbank stellt die Weichen, das Parlament ist weitgehend machtlos, und versucht, mittels Bürokratieabbau die Wirtschaft zu entlasten. Ferner hat das Parlament seine Sparaufgaben nicht gemacht.
Etwa beim Konsolidierungs- und Aufgabenüberprüfungspaket (KAP) hat es das Sparziel von 740 Millionen Franken um 100 Millionen verringert. Weil das Finanzloch beim Bund weiter wächst, ist die Diskussion nicht abgeschlossen – zumal die prekären Umstände die Unternehmenssteuerreform III erschweren. Doch die Wirtschaft feierte auch Erfolge: Das Volk lehnte linke Experimente klar ab. Weder die Initiative zum Mindestlohn noch 1:12 oder die Erbschaftssteuer hatten eine Chance an der Urne. Nur dem Manager-Schreck Thomas Minder gelang ein Coup mit seiner Abzocker-Initiative. (wan)
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Finanzplatz

Das Ende des Schweizer Bankgeheimnisses kam schneller als erwartet. Noch 2012 versuchte der Bundesrat, die schweizerische Institution zu retten, indem er anderen Ländern die Abgeltungssteuer anbot: Nicht bezahlte Steuern auf Schwarzgeldern wären auf diese Weise abgegolten worden. Doch der Rettungsversuch scheiterte. Diesen Herbst stimmte der Nationalrat der vor wenigen Jahren undenkbaren Einführung des automatischen Informationsaustausches von Bankdaten zu. Auch der Steuerstreit mit den USA steht vor der Beilegung: Die Schweizer Banken haben ihre Bussen von total mehr als vier Milliarden Franken mehrheitlich bezahlt. Die jetzt erzielte Lösung gibt dem Nationalrat Recht, der 2013 die «Lex USA» ablehnte; der Bundesrat wollte mit dem Sondergesetz für den Finanzplatz die Kohlen aus dem Feuer holen. (lhn)

Volk, Nationalbank oder gar internationale Organisationen setzten ihren Willen durch. Abgesehen davon folgte das Parlament in Detail-Fragen oft den Vorgaben des Haupthandelspartners: So passte es beispielsweise Richtlinien des Lebensmittelgesetzes oder des CO2-Ausstosses bei Autos jenen der EU an.

Die politische Bilanz spuckt keine eindeutigen Gewinner aus: Die Ratslinke sowie die Bürgerlichen konnten Mehrheiten schaffen. Im Vergleich zu früher waren aber dank der neuen Mitte Reformen möglich, die lange undenkbar waren – etwa der Ausstieg aus der Atomenergie.

Auch abseits des Ratssaals überraschten die Politiker: Die Legislatur war garniert von Skandalen. 

Skandale

Sie gehören zum Bundeshaus
wie das Weihwasser zur Kirche.
Skandal 1: Kurz vor den Bundesratswahlen 2011 wurde publik, dass sich SVP-Kandidat Bruno Zuppiger an der Erbschaft einer verstorbenen Mitarbeiterin bereichert hatte. Zuppiger musste sich zurückziehen.
Skandal 2: Anfang 2012 brachten heikle Fremdwährungstransaktionen den damaligen Nationalbankpräsidenten Philipp Hildebrand zu Fall. Als Strippenzieher hinter den Kulissen entpuppte sich SVP-Chefstratege Christoph Blocher.
Skandal 3: Im September 2012 berichtete der «Tages-Anzeiger» über die desolaten Zustände im Medizin-Historischen Museum von SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli. Der Professor wehrte sich mit allen Mitteln, konnte seine Entlassung aber nicht verhindern.
Skandal 4: Für die peinlichste Affäre sorgte 2014 Grünen-Nationalrat Geri Müller. Der Stadtammann von Baden hatte einer Online-Bekanntschaft Nacktbilder aus seinem Rathaus-Büro geschickt. Zu den Parlamentswahlen tritt er nicht mehr an.
Skandal 5: FDP-Nationalrätin Christa Markwalder geriet diesen Sommer in Erklärungsnot, nachdem die NZZ berichtet hatte, die Nationalrätin habe im Auftrag einer Lobbyistin eines regimenahen kasachischen Politikers Vorstösse formuliert und vertrauliche Informationen weitergegeben. Ihre Wahl als Nationalratspräsidentin 2016 gilt dennoch als ungefährdet. (lhn)

Ferner trauerte das Parlament um angesehene Mitglieder, um Peter Malama und Pankraz Freitag sowie Persönlichkeiten wie This Jenny oder Otto Ineichen. Sie verstarben in ihrem Amt als National- oder Ständerat. Auch Rücktritte sorgten für Gesprächsstoff, wie jene der SVP-Schwergewichte Zuppiger, Spuhler und Blocher.

Dahingegen zeigte sich die Regierung äusserst stabil: Die Gerüchte um den Rücktritt von Bundesrätin Doris Leuthard haben sich nicht verfestigt. Dass das Gremium Bestand hat, ist nach den vielen Rochaden in der vorangegangenen Legislatur nicht selbstverständlich.

Rücktritte und Abwahlen folgten im Jahrestakt: Joseph Deiss (2006), Christoph Blocher (2007), Samuel Schmid (2008), Pascal Couchepin (2009), Moritz Leuenberger und Hans-Rudolf Merz (2010) sowie Micheline Calmy-Rey (2011). Ob das neue Parlament alle Bisherigen wiederwählt, steht jedoch auf einem anderen Blatt.

Familien

Die Politik hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familien aktiv zu unterstützen. Bloss hält das Volk die Einmischung für unnötig. Es verwarf sowohl die nationale Strategie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie als auch die Forderungen der konservativen Kräfte: Die SVP wollte auch jenen Familien Steuerabzüge gewähren, die ihre Kinder selber betreuen. Die CVP wollte Kinder- und Ausbildungszulagen von den Steuern befreien. Aber eben: ohne Erfolg. Davon unbeeindruckt peitschte Bundesrätin Simonetta Sommaruga Reformen im Familienrecht durch. So sollen sich Eltern nach einer Scheidung gleichberechtigt um gemeinsame Kinder sorgen dürfen. Nun haben die Bundesrichter aber festgestellt, dass dies in der Realität nicht immer umzusetzen ist. Unterdessen hat sich das Parlament für die Ehe für alle ausgesprochen. Bevor der Vorschlag vors Volk kommt, muss dieses zuerst entscheiden, ob es die Steuerdiskriminierung von Verheirateten aufheben will. (wan)

IV

Die Invalidenversicherung hat einen Schuldenberg von 15 Milliarden Franken angehäuft. Zwar hat die Verschuldung nicht weiter zugenommen, der Berg muss aber abgebaut werden. Das Parlament stutzte die Vorlage auf Druck der Linken auf ein tieferes Sparziel zusammen – sie wehrte sich mit dem Argument, die vorhergehenden Revisionen reichten aus, um die IV zu entschulden. Die Bürgerlichen verlangten hingegen weitere Sparmassnahmen. Am Ende konnte sich das Parlament nicht einmal auf eine Minimallösung einigen: Vor zwei Jahren versenkte eine unheilige Koalition zwischen SP und SVP die Revision. Bundesrat Alain Berset präsentiert aber noch dieses Jahr eine neue Vorlage, die verstärkt die psychische Gesundheit einbezieht. (wan)

Gesundheit

Reformen hatten im Gesundheitswesen einen schweren Stand. Das Parlament versenkte ein Präventionsgesetz nach langer Beratung. Auch die Managed-Care-Vorlage sowie die Einheitskrankenkasse hat das Volk mehr als deutlich verworfen. Kleinere Änderungen schafften es hingegen: So werden ab nächstem Jahr die Krankenkassen schärfer beaufsichtigt. Ausserdem wurden ihnen Anreize genommen, nur noch junge Gesunde zu versichern. Patienten können sich bei Apothekern impfen lassen und Medikamente einfacher beziehen. Zudem wird das elektronische Patientendossier eingeführt – jedoch nur halbherzig, auf freiwilliger Basis. (wan)

EU

Kaum ein Thema bewegte die Politik in den letzten vier Jahren stärker als die Beziehungen zu unserem grossen Nachbarn, zur EU. Im Juni 2012 versuchte der Bundesrat mit einem Schreiben die Gemüter in Brüssel zu beruhigen, indem er der EU institutionelle Lösungen vorschlug. Parallel dazu versprach die Schweiz, den Streit um die Unternehmenssteuer beizulegen. Dann kam der 14. Februar 2014: Das Volk stimmte mit einer hauchdünnen Mehrheit einer Beschränkung der Zuwanderung zu. Kurz darauf legte die EU mehrere in Verhandlung stehende Abkommen auf Eis. Die Aufkündung der Personenfreizügigkeit bedroht die Bilateralen I, weil sie direkt aneinander geknüpft sind. Die Schweiz sieht sich seither mit dem unlösbaren Problem konfrontiert: die Zuwanderung zu beschränken, ohne die Personenfreizügigkeit abzuschaffen. Die Sicherung des bilateralen Wegs treibt die Politik weiterhin um. Dasselbe gilt für institutionelle Lösungen («fremde Richter»). Immerhin konnte in der Zwischenzeit ein Steuerfrieden
geschlossen werden. (wan)

Elektronische Abstimmung

Das Bild scheint bereits heute entrückt: Ständeräte, die bei Abstimmungen die Hand heben und so lange in der Position ausharren müssen, bis die beiden Stimmenzähler am Pult vorne jede Hand erfasst haben. Seit der Gründung des Bundesstaats 1848 funktionierte das Prozedere so. Änderungen wurden regelmässig vom Ständerat selbst verworfen – bis sich 2013 peinliche Zählpannen wiederholten. Seither stimmt auch die kleine Kammer per Knopfdruck. (wan)

Medien

Auf das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen kommen stürmische Zeiten zu. Zwar gewann die SRG im Juni 2015 die Abstimmung über das neue Radio- und TV-Gesetz, doch der Sieg war mit wenigen tausend Stimmen Unterschied hauchdünn. Eine Diskussion über den Auftrag der SRG gilt damit als unausweichlich. Der Bundesrat hat für Mitte 2016 einen Bericht zum Service public ankündigt. (lhn)

Landwirtschaft

Trotz Widerstand des mächtigen Bauernverbands verabschiedete das Parlament eine neue Agrarpolitik: Der Bund löst sich von den umstrittenen Tierbeiträgen und richtet die Direktzahlungen an ökologischen Zielen aus wie der Pflege der Kulturlandschaft, der tier- und umweltfreundlichen Produktion oder der Erhaltung und Förderung der Artenvielfalt. Die Mittel für die Bauern wurden aber nicht gestrichen: Weiterhin erhalten die Bauern jährlich rund 3,4 Milliarden Franken vom Staat. So wehrten sie sich auch (als Einzige) erfolgreich gegen Kürzungen. (wan)

Verkehr

Das Schienennetz der Bahn haben Parlament und Volk für die Zukunft gesichert. Sie unterstützten die Finanzierung und den Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi), akzeptierten Investitionen über 6,4 Milliarden Franken. Der Bundesrat hat analog dazu einen Fonds entworfen, der die Finanzierung der Nationalstrassen und des Agglomerationsverkehrs (NAF) finanziell hätte sichern sollen. Doch Kantone sind sich uneins, wie dieser ausgestaltet werden soll. Kommt hinzu: Autofahrer haben mit dem Nein zur Preiserhöhung der Autobahnvignette von 40 auf 100 Franken einen Pyrrhussieg davongetragen: Es bedeutete gleichzeitig auch ein Nein zum Netzbeschluss, der Entwicklung des Nationalstrassennetzes. Wie der Unterhalt der Strassen in Zukunft finanziert werden soll, ist deshalb unklar. (wan)
Jetzt auf

Raumplanung

Zersiedelung nicht nur im Mittelland, Zersiedelung auch im Alpenraum. Der Unmut darüber, dass pro Tag etwa acht Fussballfelder Kulturland verbaut werden, mündete in neuen Gesetzen: Auf Bundesebene wurde beschlossen, dass Kantone und Gemeinden ihre Bauzonen verkleinern und Brachen in Zentren besser nutzen müssen. Die Kantone waren mässig begeistert. In der Folge setzten nicht alle die Vorgabe in gleicher Strenge um. Die Bevölkerung ging noch einen Schritt weiter, als sie die Zweitwohnungsinitiative annahm und so in touristischen Gebieten den Bau neuer Ferienheime unterband. Doch die Lobby der Berggebiete setzte alle Hebel in Bewegung und wehrte sich erfolgreich gegen allzu strenge Gesetze. (wan)

  (aargauerzeitung.ch)

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