Selten ist die Deutung darüber, was die Bevölkerung mit ihrem Votum am Abstimmungssonntag genau aussagen wollte, wichtiger als bei der AHVplus-Initiative. Denn heute beginnt im Nationalrat die grosse Debatte um die Rentenreform. Und dort steht nicht nur die Frage im Zentrum, wie die Renten angesichts der Alterung der Gesellschaft auch in Zukunft finanziert werden können. Sondern vor allem auch die Frage, ob die absehbaren Einbussen bei der beruflichen Vorsorge aufgefangen werden sollen und können – und, wenn ja: Wie stark?
Für SP, Grüne, Gewerkschaften und auch die CVP ist klar: Nur weil das Volk einen pauschalen Ausbau der AHV-Renten um zehn Prozent ablehnt, heisst das nicht, dass es einen Rentenabbau goutieren würde. Genau das unterstellen sie aber FDP und SVP, die zusammen mit der Wirtschaft eine «schlanke Vorlage» fordern.
Konkret geht es um die 70 Franken AHV-Zuschlag, welche der Ständerat vor einem Jahr als Kompensation tieferer Pensionskassenrenten beschlossen hat. In den Augen der Wirtschaft handelt es sich dabei um einen Ausbau, den das Volk eben nicht wolle, wie Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, sagt. Für ihn steht fest: «Die 70 Franken Rentenerhöhung sind nach der Abstimmung vom Tisch.»
Gleichzeitig sind die 70 Franken für die Ratslinke die Bedingung, um der «Altersreform 2020» als Ganzes zuzustimmen. Mit seiner Vorlage will der Bundesrat das Rentenniveau erhalten – trotz alternder Gesellschaft und unerfreulicher Situation an den Finanzmärkten. Um das zu erreichen, verlangt er, dass erste (AHV) und zweite Säule (BVG) gemeinsam saniert werden.
Zunächst ist die Finanzierungslücke von bis zu acht Milliarden Franken jährlich zu verhindern. Dazu sind drei Massnahmen so gut wie beschlossen:
Diese Massnahmen zur Stabilisierung der AHV sind nur ein Aspekt der Reform. Weil wir länger leben und Finanzanlagen keine hohen Renditen mehr abwerfen, können Pensionskassen bereits heute die Rentenversprechen nur einhalten, weil sie das Alterskapital der aktiven Generation anzapfen. Das soll künftig verhindert werden:
Weil es sich um eine Rentenkürzung handelt, stehen verschiedene Kompensationsmodelle zur Diskussion.
Offen ist noch, ob Witwen- und Kinderrenten gekürzt werden sollen, ob Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau mittels AHV-Renten ausgeglichen werden sollen oder ob Selbstständige höhere Lohnbeiträge abgeben müssen.
Der Nationalrat könnte nun mit dem Interventionsmechanismus, einen neuen Streitpunkt einfügen. Dieser soll die Verschuldung der AHV verhindern. Er setzt ein, wenn der AHV-Fonds aus dem Gleichgewicht fällt und die Politik es verpasst, geeignete Massnahmen zu verabschieden. Die Mehrwertsteuer würde dann um 0.4 Prozent und das Rentenalter schrittweise auf maximal 67 Jahre erhöht. Experten warnen davor, die Vorlage mit weniger dringlichen Massnahmen zu überladen und so den Absturz der Reform bei einem Volksentscheid unnötig zu gefährden.
Um den Totalabsturz zu verhindern, hat der Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi letzte Woche einen Antrag eingereicht, der eine Aufsplittung der Vorlage in drei Teile fordert. Konkret sollen erste und zweite Säule separat reformiert werden. In einem dritten Schritt soll über den Interventionsmechanismus entschieden werden.
Da Rentenalter 67 selbst in der SVP umstritten ist, scheint ein Abspalten des dritten Teils wahrscheinlich. Trotzdem erhält Aeschis Vorschlag wohl eine klare Absage: Dass AHV und BVG gemeinsam reformiert werden müssen, ist nach anfänglicher Skepsis nun breit abgestützt. «Jeder Bürger rechnet, was er am Schluss der Reform noch im Portemonnaie hat», sagt der Schwyzer SVP-Ständerat Alex Kuprecht, der das Projekt eng begleitet hat. Er weiss: «Der Erhalt des Rentenniveaus ist nur mit beiden Säulen zu sichern.» Eine Aufteilung wäre darum falsch, spätestens im Ständerat würde der Antrag durchfallen.