Das erste Mal war am schlimmsten. Ich musste jemanden entlassen, an den ich glaubte. Er war 20 Jahre älter und doppelt so lange im Unternehmen wie ich. Er schied wegen «Überzähligkeit» aus – seine Leistungen aber waren exzellent.
Man muss unterscheiden: Entlassungen wegen mangelnden Leistungen sind einfach. Müssen wir hingegen jemanden wegen Umstrukturierungen gehen lassen, dann tut das weh.
Die grösste Anspannung bei Entlassungen hat man in den Stunden zuvor. Ich verspüre eine gewisse Nervosität. Wie wird der oder die Betroffene reagieren? Ich mache mir Gedanken zur Wortwahl und was ich auf gewisse Reaktionen entgegnen werde.
Während des Gesprächs bin ich immer so offen und ehrlich wie möglich. Dieses Klima pflege ich in meinem Team. Ich versuche nichts zu verbergen. Die Betroffenen sind zwar selten mit mir einig, aber sie kennen danach meine Position, sofern ich diese voll und ganz ausbreiten kann. Manchmal stehen hinter Personalentscheidungen globale Strategien, die geheim bleiben müssen.
Ich bereite mich auf alle möglichen Reaktionen vor: Tränen, Wut, Aggression, Stille – die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es kann vorkommen, dass das Gegenüber zu Beginn einen gefassten und ruhigen Eindruck hinterlässt und erst viel später dafür umso heftiger reagiert. Mit Telefonterror zum Beispiel. Oder Drohungen per Mail.
Eine Entlassung ist ein Schock, ein enormer Impact im Leben – nicht nur für eine Person. Hinter den Angestellten befinden sich Familien, Kinder, welche in vielen Fällen auf das Einkommen der betroffenen Person angewiesen sind. Werden Kinder auf Weihnachtsgeschenke verzichten müssen? Wie viele Male ist diese Person, die gerade vor einem sitzt, am Morgen aufgestanden, um danach loyal und mit Hingabe für die Firma zu arbeiten?
Während des Gesprächs schalte ich solche Gedanken aus. Es ist zwar nicht immer möglich, aber ich versuche, die Emotionen aus dem Spiel zu lassen.
Bei den Angestellten bin ich aber froh, wenn sie es umgekehrt handhaben. Sie sollen ihren Gefühlen möglichst freien Lauf lassen. Damit beginnt der sehr wichtige Verarbeitungsprozess. Es ist gesünder, gleich eine Reaktion zu zeigen, als alles in sich hinein zu fressen und unter Umständen später zu explodieren.
Bei solchen Gesprächen ist immer auch jemand vom HR (Anm. d. Red.: Human Resources / Personalabteilung) dabei. Reagiert eine betroffene Person extrem, dann passiert das bei uns quasi «in einer geschützten Umgebung». Kritisch wird es erst später. Einmal verbarrikadierte sich eine Person in der Toilette. Das sind die wirklich unangenehmen Situationen. Einmal rief mich einer nachts an und das Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, dass ich die Polizei zum ihm nach Hause schicken musste.
Ich offeriere meinen Leuten jeweils, dass sie mich während den nächsten 24 Stunden jederzeit anrufen können, um sich am Telefon auszuheulen oder mich anzuschreien. Das bin ich ihnen schuldig. Nicht alle nutzen das Angebot, aber einige. Die meisten sind verärgert, wollen weiterführende Erklärungen. Andere sind aggressiv, betrunken oder beides. Es kann vorkommen, dass die Leute mit dem Job auch gleich ihre Lebensfreude verlieren. Es kann vorkommen, dass man für solche Leute Hilfe organisieren muss.
Veränderungen sind schwierig. Forcierte Veränderungen noch schwieriger. In meinem Beruf habe ich es aber mit gut ausgebildeten, intelligenten Leuten zu tun. Und die stehen in der Regel mit beiden Füssen auf dem Boden.
Nach einem Entlassungsgespräch bin ich erschöpft. Im letzten Jahr entliess ich innerhalb von vier Tagen 17 Leute – in fünf verschiedenen Ländern. Du kommst im Konzern an, entlässt drei Leute, steigst ins Taxi zum Flughafen, fliegst in eine andere Stadt. Dort wiederholt sich sich der Prozess. Nach solchen Tagen lege ich mich am Abend im Hotel nur noch ins Bett, bestelle einen Hamburger und eine Flasche Wein und schaue Reality-TV.
Nach einem Entlassungsgespräch bin ich aber auch immer erleichtert. Ich bin für das P&L-Management verantwortlich [Anm. d. Red.: Profit & Loss / die Gewinn- und Verlustrechnung]. Eine Entlassung bedeutet für mich meist auch, dass ich meinen Zielvorgaben näher gekommen bin. Erreiche ich diese nicht, kann ich die Rentabilität nicht mehr gewährleisten. Und dann werde ich entlassen.
Der Konzern, für den ich arbeite, ist keine Non-Profit-Organisation. Ich arbeite in einer weltweit hart umkämpften Branche. Das Einzige was zählt, ist der Aktienpreis, der Shareholde-Value, wie viel Geld Investoren verdienen können.
Kümmern sich die Shareholder um die Angestellten? Kümmern sie sich ums Produkt? Oder die Kunden? Sie behaupten es. Aber das sind Fake News.
In Tat und Wahrheit ist denen das alles – entschuldigen sie den Ausdruck – scheissegal. Das einzige, worum sich Shareholder kümmern, ist die Rendite. Produkte, Angestellte, Kunden sind in ihren Augen nur Werkzeuge. Wird ein Werkzeug nicht mehr gebraucht, wird es entsorgt. Wir leben in einer brutalen Gesellschaft.
Das Paradoxe ist, dass Angestellte und Kunden in der Regel eine langfristige Beziehung mit einem Konzern suchen. Verträge lassen sich nicht von heute auf morgen terminieren. Die Exit-Option des Shareholders ist hingegen omnipräsent. Er kann seine Beteiligung fast jederzeit und sofort verkaufen.
Was mich in letzter Zeit beunruhigt, ist die Tendenz, dass Personalplanungen kurzfristigen Trends unterworfen werden. Auf ein etwas schlechteres Quartal folgen gleich radikale Veränderungen, nur um im nächsten Quartal ein bisschen besser dazustehen. Hire and fire. Verschiedene Länder in Europa versuchen mit Gesetzen im Arbeitsrecht diesem Trend entgegenzuhalten. Sie wollen verhindern, dass die Konzerne zu viele «Contractors», temporäre Mitarbeiter, verpflichten.
Temporäre Mitarbeiter ermöglichen es, den Personalbestand flexibel zu gestalten. Ich selber würde manchmal gerne vermehrt auf temporäre Mitarbeiter zurückgreifen. Andererseits verstehe ich die Bemühungen, «hiring and firing» zu verhindern.
Wir durchlaufen gerade einen riesigen Reorganisationsprozess. Knapp 30 Prozent der mir unterstellten 400-500 Leute sind davon betroffen. Ich arbeite mit intelligenten Leuten – sie sind sich der Situation bewusst, in der wir uns befinden.
In den letzten 10 Jahren musste ich ungefähr 100 Entlassungsgespräche selber führen – Entlassungen sind zwar ein unangenehmer, aber nur ein kleiner Teil meiner Arbeit. Es wäre vermessen zu sagen, dass ich besonders gut darin bin, aber ich versuche der betroffenen Person mit dem grösstmöglichen Respekt zu begegnen. In meinen Augen sind Angestellte keine Werkzeuge. Es sind Menschen.
Ich versuche die Leute so zu verabschieden, wie ich mir das von meinem Vorgesetzten wünschen würde: mit demselben Respekt, demselben Support, derselben Ehrlichkeit. Ja, vielleicht müsste ich manchmal mehr Mitgefühl haben. Aber das Umfeld, in dem ich arbeite, hat sicher auch bei mir seine Spuren hinterlassen.
(Aufgezeichnet von watson)