Es war der Höhepunkt einer Protestwoche: Diesen Samstag demonstrierten Hunderte Studenten in Bern gegen den «Bildungsabbau». Zuvor fanden bereits Aktionen an verschiedenen Hochschulen statt. Besonders die ETH ist mit ihrer geplanten Erhöhung der Studiengebühren in die Kritik geraten. Im Interview verteidigt ETH-Ratspräsident Fritz Schiesser das Vorhaben. Er sorgt sich um die Zukunft des Schweizer Forschungsplatzes und sieht grosse Veränderungen kommen. Gerade deshalb würde der Welt eine Persönlichkeit wie Stephen Hawking jetzt guttun.
Herr Schiesser, schweizweit demonstrieren Studenten gegen höhere Studiengebühren. Warum lassen Sie die Proteste kalt?
Das tun sie nicht. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir die Studiengebühren noch nicht erhöht haben. Erst muss der Antrag durch die interne Ämterkonsultation.
Das ist doch reine Formsache.
Ich möchte dem Entscheid nicht vorgreifen. Allerdings zeichnet sich ab, dass eine Erhöhung von 1160 auf 1660 Franken im Jahr grösstenteils akzeptiert wird. Es gibt zwar Widerstand aus der Politik und natürlich von den Studierenden selber, aber alles andere wäre auch eine Überraschung.
Die Studiengebühren machen nur einen minimalen Prozentsatz des Budgets aus. Die Hochschulen spüren die Mehreinnahmen kaum, für einen Studenten sind 500 Franken allerdings viel Geld. Warum verzichten Sie nicht auf die Teuerung?
Zurzeit hat die ETH Zürich die tiefsten Gebühren in der Deutschschweiz, sie liegen zum Teil unter jenen der Fachhochschulen. Der Aufwand ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Das Angebot ist für die Studierenden grösser geworden. Der Bund und damit auch der Steuerzahler stecken heute wesentlich mehr Geld in die Bildung. Deshalb halte ich es für angemessen, dass die Studierenden ihren Beitrag leisten.
Es sind nicht nur die Studiengebühren: Einige Kantone verlangen neu, dass ein Teil der Stipendien zurückbezahlt wird. Junge Menschen müssen sich für ein Studium verschulden – wie in den USA.
Natürlich wollen wir keine amerikanischen Verhältnisse, davon sind wir auch weit entfernt. In den betroffenen Kantonen müssen die Studierenden maximal einen Drittel des Stipendiums zurückzahlen. Trotzdem wäre es ideal, den Leistungsgedanken hervorzuheben: Wer zügig und mit guter Leistung sein Studium abschliesst, dem sollten die Schulden erlassen werden.
Die Beiträge an den ETH-Bereich sind in 10 Jahren um 30 Prozent gestiegen. Nun regt sich Widerstand. Hat die Bildung in der Bevölkerung an Akzeptanz verloren?
Man merkt, dass die Bildungskosten in der Politik, aber auch in der Bevölkerung, einen Nerv treffen. Mit einer moderaten Erhöhung der Studiengebühren greifen wir der Debatte vor. Wenn wir das nicht tun würden, käme es wohl zu einigen Vorstössen im Parlament. Bisher war die Akzeptanz immer gross. Ich will nicht jammern, aber wenn wir 2030 noch Weltspitze sein wollen, müssen wir jetzt die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft stellen.
Vor einigen Tagen ist mit Stephen Hawking die vielleicht schillerndste Figur der Wissenschaft gestorben. Fehlt nun eine Persönlichkeit, die alle Gesellschaftsschichten erreichen kann?
Mir fällt niemand ein, der eine ähnliche Reputation und Bedeutung gegenüber der grossen Masse hat wie Stephen Hawking. Das ist schade. Die Gesellschaft braucht neue Idole, wie Hawking eines war. Wir benötigen Persönlichkeiten, welche die immer komplexer werdenden Erkenntnisse der Wissenschaft einer breiten Masse näher bringen können. Hawking gab immer wieder Denkanstösse. Zuletzt hat er eindringlich vor künstlicher Intelligenz gewarnt. Ob sie gefährlich ist, wird sich zeigen. Aber es ist wichtig, darüber zu sprechen.
Warum fehlen diese Menschen?
Die Welt dreht sich schneller, jeden Tag kommt etwas Neues, vieles ist komplexer geworden. Es ist schwierig, immer in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden und präsent zu sein. Bei Stephen Hawking war es auch seine Erscheinung, seine Krankheit, welche die Menschen in ihren Bann gezogen haben. Er war der Beweis, dass der Geist – der Verstand – über den Körper siegen kann. Und modernste Technologie hat ermöglicht, dass sich dieser Geist trotz schwerster körperlicher Beeinträchtigung verständlich machen konnte.
Eine schillernde Figur ist auch Donald Trump. Viele Professoren sehen ihn als Feind der Wissenschaft. Wie stark schadet er dem weltweiten Forschungsplatz?
Er findet bei Leuten Gehör, die ohnehin seiner Meinung sind. Nehmen Sie als Beispiel den Klimawandel: Da erreicht Trump Menschen, die davon nichts halten. Wer sich allerdings tiefer mit dem Thema auseinandersetzt, den kann Trump kaum überzeugen. Ich sehe die Situation nicht nur negativ. Trump rüttelt mit seinen Aussagen weltweit Forscher und Menschen auf, die nun für die Wissenschaft einstehen.
Wo soll die ETH in 20 Jahren stehen?
Mein Ziel ist es, dass die weltbesten Köpfe und Charaktere sagen: Ich möchte an der ETH arbeiten. Hier will ich forschen, hier will ich lehren.
Die Zuwanderungsinitiative und der vorübergehende Ausschluss aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon 2020 wirken laut den Rektoren aber abschreckend.
Uns geht es ähnlich wie der Wirtschaft, wir müssen um die besten Kräfte kämpfen. Einschränkungen aus der Politik erschweren unsere Aufgabe, egal ob es sich um Professoren, Doktoranden oder Studenten handelt.
Sie könnten aber auch sagen: Wenn wir aus dem europäischen Forschungsprogramm ausscheiden, konzentrieren wir uns eben auf andere Märkte. Die USA oder China zum Beispiel.
Das Argument ist mir zu einfach. Natürlich sind wir in anderen Regionen aktiv, aber Europa ist nicht so einfach zu ersetzen. Nirgends ist der Austausch, das Netzwerk besser. Die ETH hat sich zum Beispiel in Singapur hervorragend etabliert, trotzdem können wir nicht rund um den Erdball externe Standorte aufbauen, das ist schlicht unmöglich.
Sind dennoch weitere Standorte in Planung?
Derzeit ist nichts in der Pipeline. Man muss dabei die Konkurrenz berücksichtigen. Wenn wir nach Kalifornien gingen, wären dort bereits zahlreiche andere Elite-Universitäten.
Zum Beispiel die Universität Stanford. Dort erhalten die besten Professoren Löhne von über einer Million Franken im Jahr. Die ETH hat den Lohn bei 277000 Franken gedeckelt. Wird das zum Problem?
Nein, das Gehalt war bisher nie das wichtigste Argument. Wir zahlen einen sehr guten Lohn und entsprechende Pensionskasse. Viel wichtiger scheint internationalen Wissenschaftlern, ein gutes Bildungssystem oder Privatschulen für ihre Kinder zu sein. Wir wollen nicht mit Steuergeldern exorbitante Löhne zahlen.
Wird Sponsoring wichtiger?
Wenn ich sehe, was für eine Welle aus Asien auf uns zurollt, müssen wir die Finanzierung sichern, um mithalten zu können. Dort wird wahnsinnig viel investiert. Für uns bleiben die Haupteinnahmequelle der Bund und Gelder aus Forschungsprogrammen. Trotzdem müssen wir einen Teil als Drittmittel aus dem privaten Sektor generieren.
Warum umgehen Sie das Wort Sponsoring?
Sponsoring suggeriert eine dubiose Gegenleistung. Darauf würden wir nie eingehen. Allerdings muss ich sagen, dass es leider nicht mehr so viele Mäzene gibt wie früher.
Welche Uhr tragen Sie?
Eine Tissot. Keine teure, aber sie läuft (schmunzelt). Warum fragen Sie?
An der ETH Lausanne ist ein Gebäude nach Rolex benannt.
Für mich ist die Transparenz entscheidend, wenn die gegeben ist, kann das Gebäude so benannt werden, wie man möchte. Das stört mich nicht.
Welche Forschungsgebiete werden in den nächsten 10 Jahren an Bedeutung gewinnen?
Ein zentraler Aspekt ist Big Data, hier haben wir mehrere Schwerpunkte. Aber auch fortgeschrittene Produktionsverfahren und die Medizintechnologie werden an Bedeutung gewinnen. Unsere Industriebetriebe sollen und müssen weltweit mithalten. Entscheidend ist auch der Pharmabereich. Wir versuchen, unser Spektrum zu erweitern und auf Top-Niveau zu halten.
Planen Sie eine medizinische Fakultät?
Nein, wir pflegen bereits eine enge Zusammenarbeit mit der Universität Zürich und dem Universitätsspital. Ähnlich sieht es in Lausanne aus. Wichtig ist, dass die beiden ETH bei der Medizinerausbildung mit dabei sind. Es gibt keine technische Hochschule mit Weltformat, die heute nicht auch in diesem Gebiet tätig ist. Wir dürfen den Anschluss nicht verlieren.
Wie kann die ETH die Medizin verbessern?
Zum Beispiel in der Krebsbehandlung. Sie wird in 10 Jahren von technischen Neuerungen geprägt sein, von neuen Behandlungsformen, die erst jetzt entwickelt werden. Da ist die Medizin auf das Know-how der ETH angewiesen.
Die ETH wiederum benötigt die besten Talente. Die künftigen Forscher sitzen heute in den Klassenzimmern. Was muss die Volksschule besser machen?
Die Digitalisierung kommt bei der jungen Generation fast von alleine. Natürlich braucht es eine gewisse Begleitung, aber ansonsten wachsen die Jungen in die Entwicklung hinein. Machen wir uns nichts vor, häufig verstehen die Primarschüler mehr von den Geräten als ihre Eltern oder zumindest die Grosseltern. Viel entscheidender ist für mich die künftige Lehrerausbildung.
Wie muss sie aussehen?
Wir müssen die Lehrer hervorragend ausbilden, damit sie die Schüler bestens auf die Berufswelt vorbereiten. Die ETH Zürich bietet den Kantonen Hilfe im Informatikunterricht an. Die ETH hat entsprechende Lehrmittel entwickelt. Hier wollen wir ansetzen.
Gemäss einer Oxford-Studie werden in 25 Jahren die Hälfte aller Jobs verschwunden sein und durch neue ersetzt werden. Was sollen Kinder lernen, um sich vorzubereiten?
Das ist kaum vorherzusagen. Klar ist, dass die Jungen flexibler sein müssen. Es wird kaum mehr vorkommen, dass man Anfang 20 einen Beruf lernt und diesen bis zur Pensionierung beibehält. Wahrscheinlich wechseln sie den Job drei bis vier Mal. Deshalb gilt für mich ein simpler Grundsatz: Egal, was du machst, mach es so, dass du zu den Besten gehörst. Dann werden immer Chancen da sein.
Sie selbst sind vom Bauernsohn zum ETH-Ratspräsidenten aufgestiegen. Das war wohl kaum geplant.
Nein, nicht mal vor 15 Jahren habe ich daran gedacht. Ich habe immer versucht, nach meinem Grundsatz zu leben: Pack deine Chance! Ich wusste, meine Eltern hätten mich nie auf eine Privatschule oder sonst irgendwohin schicken können.
Erinnern Sie sich an Maximilian Janisch, das Mathe-Genie, das mit 9 Jahren die Mathematik-Matur gemacht hat?
Ist das der Bub aus Luzern?
Genau, er wollte an der ETH studieren, durfte aber nicht. Stattdessen musste die Universität Zürich mit einem speziellen Programm einspringen. Warum fördert die ETH nicht die begabtesten Kinder des Landes?
Die Universität Zürich hat eine gute Lösung gefunden, das freut mich. Der Fall wurde bei uns intern diskutiert. Damals fehlten allerdings die Erfahrungswerte. Wie soll ein 9-Jähriger mit 19-Jährigen zusammensitzen? An der Universität ist das ja auch nicht der Fall. Ob wir künftig anders entscheiden, ist offen.
Die Universität Zürich fördert neu die besten Mittelschüler. Sie dürfen während des Gymnasiums an die Universität. Hinkt die ETH in der Begabtenförderung hinterher?
Nein, wir engagieren uns. Beispielsweise verleihen wir Auszeichnungen an hervorragende Mathematikschüler an Gymnasien. Wir möchten Talente früh erkennen und fördern, sie allerdings in ihrem gewohnten Umfeld lassen.
Eine Stufe darüber ist es ebenfalls schwierig: Die ETH verliert oft die besten jungen Forscher an die Wirtschaft. Gerade Google wirbt viele Talente ab.
Das lässt sich nicht vermeiden, wenn Absolventen ein gutes Angebot bekommen, wollen wir ihnen keine Steine in den Weg legen. Trotzdem sind unsere Doktorandenstellen sehr beliebt. Zwei Drittel unserer Doktoranden kommen aus dem Ausland. Viele sagen: Ich will ein Diplom mit diesen drei Buchstaben. Damit stehen ihnen auch international alle Türen offen.
Warum gelingt es der Schweiz trotz ETH nicht, das nächste Google oder Amazon zu erfinden?
Wir dürfen nicht Google oder Amazon hinterherhecheln. Wir müssen herausfinden, was als Nächstes kommt, was das nächste grosse Ding sein wird und in diesem Bereich den ersten Schritt wagen. Was das sein wird? Da bin ich überfragt. Das müssen unsere Talente herausfinden. Die Voraussetzungen dafür haben sie.