Die Umweltorganisation Greenpeace hat geheime Papiere aus den Verhandlungen über eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft – bekannt als TTIP – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zuvor spielte sie die Dokumente dem Rechercheverbund aus «Süddeutscher Zeitung», WDR und NDR zu.
Es wurde kein ausgehandelter Vertrag ans Tageslicht gebracht. Was gestern öffentlich wurde, ist die Position der EU und jene der USA. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström kommentierte: «Im Gegensatz zu dem, was viele offenbar glauben, sind sogenannte ‹Konsolidierte Texte› in einer Verhandlung nicht dasselbe wie ein Ergebnis.» Sie zeigten die Verhandlungspositionen — «nicht mehr». «Es sollte nicht überraschen, dass es Bereiche gibt, in denen die EU und die USA unterschiedliche Standpunkte haben.»
Die an die Öffentlichkeit gebrachten – Neudeutsch: «geleakten» – Papiere zeigen, dass die EU und die USA in einigen kritischen Punkten noch weit auseinander liegen. Darunter sind drei richtig «dicke Brocken»: Muss künftig in der EU nach US-Vorbild nicht mehr die Ungefährlichkeit von Lebensmitteln, sondern deren Risiko bewiesen werden? Letzteres will die US-Seite durchsetzen. Europäische Verbraucherschützer lehnen das ab.
Unklar ist ausserdem, wer in Streitfällen zwischen Konzernen, die sich benachteiligt fühlen, und Staaten, die ihnen Geschäfte verwehren, entscheiden soll. Die USA haben ausserdem in den Autoexporten der EU einen wunden Punkt ausgemacht: Will die EU Autos ohne Hemmnisse in die USA verkaufen, soll sie im Gegenzug die Tür für US-Agrarprodukte weiter öffnen.
Laut Economiesuisse: nicht viel. «Der Überraschungswert der sogenannten ‹Enthüllungen› von gestern ist gleich null», sagt Jan Atteslander zur «Nordwestschweiz». Der Leiter Aussenwirtschaft beim Dachverband der Wirtschaft erklärt, dass am Ende jeder TTIP-Verhandlungsrunde, von denen es bisher dreizehn gab, genau kommuniziert wird, wo man sich einig wurde. Bei der öffentlichen Beschaffung, dem Streitschlichtungsverfahren, dem regulatorischen Umfeld oder der Lebensmittelsicherheit bestünden nach wie vor offene Punkte, weshalb die unterschiedlichen Positionen der EU und der USA kaum überraschen dürften.
Martin Naville von der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer ergänzt: «In solchen Verhandlungen schlachtet man die heiligsten Kühe immer erst ganz am Schluss.» Ferner seien die Enthüllungen «Teil der Verhandlungstaktik».
Das Freihandelsabkommen TTIP soll die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA ausweiten. Befürworter versprechen sich mehr Wirtschaftswachstum und einen Zuwachs an Arbeitsplätzen. Entstehen würde die grösste Freihandelszone der Welt mit mehr als 800 Millionen Verbrauchern.
Die Schweiz sitzt nicht mit am Verhandlungstisch. Sollte das Abkommen verabschiedet werden, hat sie voraussichtlich drei Möglichkeiten: Nichts tun, an das Abkommen andocken oder auf eigene Faust ein Abkommen mit den USA anstreben. Da die dann neu geschaffene Freihandelszone EU-USA jedoch rund 80 Prozent des Schweizer Aussenhandels betrifft, wird sich die Eidgenossenschaft das genau überlegen müssen. Betroffen ist die hiesige Wirtschaft in jedem Fall.
Einige Wirtschaftverbände haben sich klar für ein «Andocken» an TTIP ausgesprochen. Auch Economiesuisse ist für eine Marktöffnung: Man könne sich jedoch heute noch nicht endgültig festlegen – erst müsse das Abkommen stehen. Zentral ist der diskriminierungsfreie Zugang zu den Absatzmärkten in der EU und den USA. Jan Atteslander betont: Die Schweiz habe in vielen Punkten eine ähnliche Sichtweise wie die EU. Er ist sicher: «Die EU wird nichts unterschreiben, was nicht in die politische Landschaft passt.»
Greenpeace fordert den Abbruch der Verhandlungen. Verbraucherschützer fürchten die Absenkung von Qualitätsstandards in Europa. In der Schweiz sind die Bauern die kritischsten Beobachter. Als Blockierer wollen sie nicht bereits vor Abschluss des Vertrags dastehen. So erklärt der Schweizerische Bauernverband, dass man nicht grundsätzlich gegen ein Freihandelsabkommen sei und man erst die Ergebnisse abwarten müsse.
«Wenn TTIP dazu führen würde, dass beispielsweise irische Produkte durch US-Produkte ersetzt würden, dann ist das für die Schweizer Bauern ökonomisch unproblematisch, wobei sich natürlich auch ethische Fragen stellen», sagt Beat Röösli, Leiter Geschäftsbereich Internationales. «Sollten die Einfuhrkontingente und -zölle komplett wegfallen, dann könnten die Schweizer preismässig nicht mithalten. In diesem Fall könnte ein Drittel der Schweizer Bauernbetriebe verschwinden.»
Es wird, wie geplant, weiter verhandelt. Ob im Laufe des Jahres jedoch ein Abschluss erzielt werden kann, ist offen. Jan Atteslander von Economiesuisse sagt: «Wir würden das begrüssen.» Die Proteste in der europäischen Bevölkerung dürften jedoch mit den Enthüllungen nicht kleiner werden – zuletzt protestierten allein 35'000 Menschen in Hannover gegen TTIP, im vergangenen Jahr waren es gar 150'000 in Berlin.