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Afrika-Kenner Al Imfeld zum Flüchtlingsdrama: «Eine Lösung ist keineswegs so einfach, wie Roger Köppel sie vorschlägt»

Al Imfeld würde die Bootsfahrt über das Mittelmeer ebenfalls wagen.
Al Imfeld würde die Bootsfahrt über das Mittelmeer ebenfalls wagen.Bild: EPA

Afrika-Kenner Al Imfeld zum Flüchtlingsdrama: «Eine Lösung ist keineswegs so einfach, wie Roger Köppel sie vorschlägt»

Endlich Einigkeit in der EU, neue Schengen-Abkommen, stärkere Aufnahme – das seien Massnahmen, die helfen, das Flüchtlingselend wirklich zu lindern. Das sagt Al Imfeld (80), Journalist und Schriftsteller. Er zählt hierzulande zu den besten Afrika-Kennern.
21.04.2015, 10:1721.04.2015, 17:14
Max Dohner / aargauer zeitung
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Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Herr Imfeld, Sie kennen jedes Land in Afrika. Wären Sie 20 und Afrikaner, egal aus welchem Land: Würden Sie aufbrechen und ein anderes Leben suchen in Europa?
Al Imfeld: Sicher. Gehen wir doch in die Geschichte zurück. Ich stamme aus der Innerschweiz. Wie viele Jahre lang überlegten es sich die Leute da, auszuwandern für ein besseres Leben – nach Kanada, in die USA. 

Also gehört es für Sie zum Plausibelsten, wenn man aufbricht?
Mehr noch, ich finde es sogar notwendig, dass man aus- und aufbricht. Vor allem, wenn man jung ist.​

Nun sind die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen keine Sache von Einzelnen, sondern eine Bewegung der Massen. Europa steht vor der Frage: Auf Wohlstand verzichten oder abschotten? Stehen wir tatsächlich vor diesem Dilemma?
Nein. Wir sollten vor einem anderen Dilemma stehen: Wie können wir einen Kuchen besser verteilen? So, dass andere mindestens daran teilnehmen. Solche Überlegungen müssten wir uns machen, ohne dabei in den nationalökonomischen Strukturen des vorigen Jahrhunderts zu verharren.

Wie setzt man das um? Gerade sagte der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in Luxemburg: «Antworten liegen nicht einfach auf der Hand.» Aber von Ihnen möchten wir gern Antworten hören, etwas weniger Ratlosigkeit.
Die Sache ist in der Tat komplex – und eine Lösung keineswegs so einfach, wie sie Roger Köppel am Sonntagabend im deutschen Fernsehen vorschlug, im Sinn von: «Übers Mittelmeer kommt kein Flüchtling, Punkt.» Ohne zu sagen, wie man das Meer sperren soll – mit Kanonenbooten?

Roger Köppel würde das Mittelmeer gerne komplett zumachen,
Roger Köppel würde das Mittelmeer gerne komplett zumachen,Bild: KEYSTONE

Was halten Sie von der Idee, Asylzentren in stabile nordafrikanische Staaten zu verlegen?
Sie haben eine fast fugendichte Krisenzone, angefangen in Marokko bis nach Ägypten. Das ist eine völlig weltfremde, also dumme Utopie.

«Die EU könnte trotzdem viel bewirken. Aber nur, wenn sie auch als EU eine Aussenpolitik betreibt und sich darauf einigen könnte.»

Die Idee gibt's auch differenzierter: Als Stabilitätszone sozusagen für Flüchtlinge aus ganz Afrika inklusive Bildungsstätten, um die Leute danach neu motiviert zurück in ihre Heimatländer zu schicken.
Auch das ist realitätsfern, aber immerhin eine gute Utopie. Alle Anstrengungen müssen darauf hinauslaufen, die Leute besser auszubilden. Die Idee ist gut, aber woher soll das Geld kommen, heute, wo alle Länder bei sich schon sagen: Sparen, sparen, sparen! Die EU könnte trotzdem viel bewirken. Aber nur, wenn sie auch als EU eine Aussenpolitik betreibt und sich darauf einigen könnte. Solange alle 28 Länder die Zustimmung zu einem Beschluss geben müssen, etwa in der Flüchtlingspolitik, solange ist auch eine EU aussenpolitisch weitgehend handlungsunfähig.

Angenommen, man hätte eine solche Stelle: Wo lägen dann die dringlichsten Massnahmen? Steinmeier nannte folgende drei: Libyen stabilisieren, Kampf gegen Schlepper, Seenotrettung verbessern.
Der letzte Punkt ist der dringlichste. Der Wandel von der Strategie «Mare Nostrum» der Italiener zu «Triton» der EU erwies sich als jene Fatalität, die alle kommen sahen. Abschreckung funktioniert nicht. Abschreckung hat eigentlich noch bei keinem Thema geklappt. Dringlich ist auch, was noch tiefer liegt: Die Angst vor dem Fremden, der Fremdenhass. Diese Angst muss man thematisieren und alles tun, um sie abzubauen. Afrikaner sollten in der Schweiz eine Lehre machen können. Seit dem Schengen-Abkommen ist das unmöglich. Und Afrika hat es verpasst, seit dem Ende des Kolonialismus die Infrastruktur dafür aufzubauen. Auch Europa hat diese Möglichkeit verpasst, im Gegensatz etwa zu den Chinesen heute.

Die neue Bahnlinie durch Addis Abeba: Gebaut von der China Railway Engineering. 
Die neue Bahnlinie durch Addis Abeba: Gebaut von der China Railway Engineering. Bild: DANIEL GETACHEW/EPA/KEYSTONE
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Zwei Generationen ist es her seit dem Ende des Kolonialismus. Sie kennen ganz Afrika. Stellen sich die Afrikaner nicht mitunter die Frage, vielleicht auch selber mitschuldig zu sein an der Misere?
Natürlich fragen sich das Einzelne. Die nach-kolonialen Regierungen taten noch das Gleiche wie die einstigen Kolonialherren, teilweise gar noch schlimmer. Ausserdem hing fast die gesamte Entwicklung ab von Multis. Darum ist der Erfolg der Chinesen in Afrika so überraschend. Die bauen zwar Afrikas Rohstoffe ab, sorgen aber auch für den Wiederaufbau einer funktionierenden Infrastruktur.

Zur Person: 
Al Imfeld ist 80 Jahre alt und wurde 2014 von der Pro Litteris für sein Gesamtwerk ausgezeichnet. In seinem Leben hat er schon jedes Land auf dem afrikanischen Kontinent bereist. Er zählt hierzulande zu den besten Afrika-Kennern. 
>>> Hier geht es zu Imfelds Homepage

Ist das keine verkappte Form von Kolonialismus?
Natürlich ist es das! Aber Afrikaner sind nie unabhängig von der Technologie, um ihre Rohstoffe abzubauen. Sobald jemand von aussen kommt und auch etwas bietet dafür, greifen Afrikaner zu. Im Übrigen denken die Leute, sie seien mit dem europäischen Kolonialismus fertig geworden, dann könnten sie irgendwann auch den chinesischen überwinden. 

Hat hier Europa etwas verpasst?
Eine Änderung der Entwicklungshilfe wäre dringlich. Weg von der Projektli-Politik, hin zu einer grosszügigeren Hilfe bei der Infrastruktur.

Zurück zu den kurzfristigen Massnahmen, wie sie Steinmeier vorschlug: Libyen, Schlepper, Seenotrettung. Was halten Sie davon?
Libyen ist dermassen instabil – da wird kurzfristig nichts besser. Ein imperialer Player, der die ganze nordafrikanische Küste erobert und stabilisiert, ist auch nicht denkbar. Komplizierter dürfte auch der Kampf gegen Schlepper werden. «Schlepper» ist ein Klischee geworden. Es gibt eine Vielzahl von ganz verschiedenen Leuten bei dieser Vermittlung von Flüchtlingen, so würde ich es einmal nennen.

Die Situation in den libyschen Gefängnissen ist untragbar. 
Die Situation in den libyschen Gefängnissen ist untragbar. Bild: GORAN TOMASEVIC/REUTERS

Was schlagen Sie ausserdem vor?
Eine stärkere Aufnahme. Aufnahmezahlen, die den Ländern vorgeschrieben werden, nicht wie Schengen jetzt, wo Ankunftsländer wie Italien die Hauptlast tragen. Über zehn Millionen Leute sind gegenwärtig auf der Flucht. Wir müssen etwas machen! Die europäischen Staaten müssen einfach mehr Leute aufnehmen. Aber es versagen auch andere Kräfte ...

«In vielen leeren Kirchen und Klöstern wäre noch viel Platz frei, um Flüchtlinge aufzunehmen.»

Zum Beispiel? 
Die Kirchen. Am Sonntag Nächstenliebe predigen – wer um Gottes willen ist jetzt, in diesem Moment, der Nächste? In vielen leeren Kirchen und Klöstern wäre noch viel Platz frei, um Flüchtlinge aufzunehmen. Dann die Gewerkschaften: Immer für die Arbeitsplatz-Erhaltung. Das läuft linear auf Abschottung hinaus. Und schliesslich die Massenmedien: Da wäre eine Differenzierung nötig – das Beispiel «Schlepper» habe ich genannt.

Rund die Hälfte der Flüchtlinge in den letzten Wochen stammt aus Kriegsgebieten. Die andere aus afrikanischen Staaten, von denen man von guter Entwicklung liest. 
Zunächst zu den Begriffen «Kriegsgebiet» und «Verfolgung»: Auch hier wären neue erweiterte Definitionen nötig. Da würde es vielleicht auch möglich, grosse Mittel aus den nationalen Verteidigungsbudgets für die Flüchtlingshilfe abzuzweigen. Ein Riesenfehler war es gewesen, die Möglichkeit abzuschaffen, Asylanträge bereits in den Botschaften zu behandeln. 

Jetzt auf

Sie verbrachten mehr als Ihr halbes Leben in Afrika. Hand aufs Herz: Sind Sie vom Kontinent nicht enttäuscht?
Enttäuscht und bestätigt zugleich darin, was sich immer schon zeigte auf dem Kontinent. Herrgott noch mal, die Lage ist von Land zu Land, von Region zu Region, von Stamm zu Stamm verschieden! Auch hier müssten differenziertere Bilder gezeichnet werden. Aber alle Zeitungsredaktionen bauen ihre Korrespondenten ab in Afrika. Am Ende wissen wir alle zu wenig.

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