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Interview mit Modedesignerin Harryet Lang zum BGE

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bild: laurent burst
Interview

Modedesignerin Harryet Lang: «Ein Leben unter dem Existenzminimum führt zur Verzweiflung»

Die Schweizerin Harryet Lang arbeitet in Berlin als Modedesignerin. Davon leben kann sie allerdings nicht. Die 40-Jährige bezieht Sozialhilfe für Selbständige vom deutschen Staat. Ein Grundeinkommen würde viel Druck aus ihrem Leben nehmen, sagt sie.
16.05.2016, 11:0516.05.2016, 13:02
nadja schnetzler / bref magazin
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Frau Lang, Sie leben in Berlin und nehmen hier regelmässig an der Verlosung eines Grundeinkommens für ein Jahr teil. Angenommen, Sie gewinnen die tausend Euro im Monat, was würde sich ändern?
Harryet Lang: Zunächst wäre es für mich eine grosse Entspannung. Ich beziehe aktuell «Hartz 4 Aufstocker», das ist die Sozialhilfe für Selbständige. Konkret muss ich dafür zweimal im Jahr alles offenlegen, was bei mir reinkommt. Also was mein Leben kostet und wofür ich Geld ausgebe. Da kommt man sich ganz nackt vor, es ist ein demütigender Prozess. Doch ohne dieses Geld könnte ich meiner Arbeit als Modedesignerin gar nicht nachgehen.

bref magazin
bref ist das Magazin der reformierten Kirchen. In der aktuellen Nummer zeigt bref 12 Ansichten von Frauen zum bedingungslosen Grundeinkommen. Das Themenheft entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut Zukunft. watson hat drei Interviews übernommen.

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Ein Grundeinkommen würde viel von diesem finanziellen Beschaffungsstress wegnehmen. Wer stellt bei der Verlosung das Geld zur Verfügung?
Der Verein «Mein Grundeinkommen» sammelt per Crowdfunding das Geld. Es sind viele Privatpersonen, die spenden, was ich grossartig finde. Immer wenn 12'000 Euro zusammen sind, werden sie an eine Person vergeben. Damit macht der Verein auf die Idee des Grundeinkommens in Deutschland aufmerksam. Dabei muss jeder Teilnehmer angeben, was man mit dem Grundeinkommen anfangen würde. Ich las bei anderen Personen, dass sie wieder einmal Ferien mit der Familie machen möchten oder dass sie Zeit brauchen, um ein Buch zu schreiben.

«Ich glaube, dass Leute mit wenig Geld in der Schweiz stärker an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden als in Berlin.»
Modedesignerin Harryet Lang

Angenommen, Sie hätten finanziell eine stabilere Basis, was würden Sie als nächstes tun?
Ich würde ein Grundeinkommen nutzen, um mein Geschäft voranzutreiben, das seit 2010 im Aufbau ist. Im Moment kann ich es mir beispielsweise nur selten leisten, die Produktion meiner Kollektion auszulagern. Hätte ich bedingungslos 1000 Euro im Monat zur Verfügung, ich würde dies tun. Zusätzlich würde ich eine Person anstellen, die meine Produkte bei Boutiquen vermarktet. Ich könnte mich dann wieder stärker auf das Entwerfen von neuen Kollektionen konzentrieren.

Das Grundeinkommen würde Ihnen also erlauben zu investieren.
Genau. Jetzt lebe ich von einem Tag zum nächsten, muss alles selber organisieren und praktisch alles selber machen. Das raubt mir unglaublich viel Zeit. Das ist aber teilweise auch meiner Haltung geschuldet, dass, wenn ich etwas nähen lasse, ich die Arbeit hier in Berlin vergebe – mit entsprechender Kostenfolge. Und mittelfristig möchte ich dann neben der fairen Produktion auch noch Biostoffe nutzen. Dafür fehlt mir aber im Moment einfach das Geld.

Was nennen Sie eigentlich Ihr Vermögen?
Ein Zimmer voll von Schnittmustern, die ich über die Jahre entwickelt habe. Es wäre aber schön, wenn ich ein kleines, richtiges Finanzpolster anlegen könnte. Das würde mir erlauben, relaxter an gewisse Themen heranzugehen.

In Berlin gibt es viele Menschen, die mit wenig Geld auskommen. Studenten, aber auch Personen mit einem Projekt, das Zeit braucht, aber kein Geld einbringt. Wie organisiert man sich hier, damit es klappt?
Wir tauschen viel mehr Dinge und Dienstleistungen – helfen uns gegenseitig aus. Fotografiert wer meine Modeschau, dann biete ich ihm als Gegenleistung ein oder zwei Stücke aus meiner Kollektion an. Wenn ich mehr Geld hätte, würde ich die Leute liebend gerne bezahlen, das ist ja klar. Aber es geht vielen wie mir, und so sind wir gewohnt, in Naturalien oder Gegenleistungen zu denken und zu zahlen.

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Erleben Sie diesbezüglich Berlin anders als die Schweiz?
In der Schweiz ist diese Haltung weniger verbreitet. In Berlin kommen die Menschen oftmals gar nicht anders über die Runden. Ich glaube auch, dass Leute mit wenig Geld in der Schweiz stärker an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden als in Berlin. Hier kann ich auch mit sehr wenig Geld an fast allem teilhaben. So gibt es zum Beispiel viele kostenlose oder extrem günstige Kulturangebote, freie Eintritte in Museen, Festivals und vieles mehr, was eine Grossstadt wie Berlin zu bieten hat.

«Zwischen wenig Geld und zu wenig Geld gibt es einen grossen Unterschied. Ein bescheidener Lebensstil kann die Kreativität beflügeln. Ein Leben unter dem Existenzminimum führt aber zur Verzweiflung.»
Harryet Lang, Modedesignerin, Berlin

Was hat diese Berliner Lebensart mit Ihnen gemacht?
Wenig Geld macht kreativ, und man fällt bewusstere Entscheide. So habe ich zum Beispiel die Schneiderschere, die ich 1996 als Abschiedsgeschenk bei einem Praktikum erhalten habe, heute immer noch im Einsatz. Es braucht keine neue, ich behandle sie einfach mit Sorgfalt und schleife sie immer wieder nach. Ich will an dieser Stelle aber etwas klarstellen: Zwischen wenig Geld und zu wenig Geld gibt es einen grossen Unterschied. Ein bescheidener Lebensstil kann die Kreativität beflügeln. Ein Leben unter dem Existenzminimum führt aber zur Verzweiflung.

Willst du ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Schweiz?

Inwiefern würde ein Grundeinkommen eine Gesellschaft verändern?
Den Menschen würde es besser gehen, und das meine ich insbesondere psychisch. Und die Menschen wären weniger gestresst. Dadurch würde das, was man tut, auch besser. Ich merke das auch bei der Mode: Wenn ich entspannt an die Sache herangehen kann, ist das Resultat einfach besser. Weiter würden die Leute vermehrt das tun, was sie wirklich gut können – und nicht das, was am meisten Geld bringt. Gerade in der Schweiz sitzen viele in Jobs, die sie zwar nicht mögen, die aber gut bezahlt sind. Das verstehe ich nicht so richtig.

Würden Sie in die Schweiz zurückkehren, wenn dort ein Grundeinkommen eingeführt würde?
Eher nicht. Ich würde den Schweizern zwar ein Grundeinkommen gönnen, auch wenn andere Länder dieses wohl nötiger hätten. Warum ich aber nicht zurückkehren würde: Ich bin in Berlin zuhause. Dieses Jahr hatte ich nach sechzehn Jahren eine kurze Zeit wirklich Heimweh nach der Schweiz und fühlte mich für ein paar Monate hier in Berlin nicht mehr so wohl. Dann bin ich in einen neuen Kiez gezogen und hab mich wieder in diese Stadt verliebt. Was ich aber nicht weiss, mich jedoch noch interessieren würde: Sieht das Grundeinkommen in der Schweiz vor, dass es wirklich alle erhalten? Also auch jene, die ein grosses Vermögen haben oder extrem viel verdienen?

«Mein Motto ist: Klar kann ich das – ich hab’s nur noch nie gemacht.»
Harryet Lang, Modedesignerin in Berlin

Ja, das ist die Idee.
Hmm, das ist irgendwie unfair. Zugleich: Es kann ja auch jede Person, der es finanziell sehr gut geht, aus irgendwelchen Gründen in Not geraten. Und dann bekommt man heute Sozialhilfe. Das Grundeinkommen dreht das um, und man bekommt in jedem Fall, egal ob es einem gutgeht oder nicht, einen definierten Betrag. Wer es nicht braucht, kann es zum Beispiel auf die Seite legen für schlechtere Zeiten, oder es anlegen oder den Betrag für einen guten Zweck spenden. Doch, das macht schon Sinn.

Sie leben seit vielen Jahren in finanziell prekären Verhältnissen. Haben Sie eigentlich ein Motto, das Sie durchs Leben trägt?
Mein Motto ist: Klar kann ich das – ich hab’s nur noch nie gemacht. Ich habe bereits einige Male im Leben wirklich krasse Entscheide getroffen. Mit 13 bin ich von zuhause ausgezogen und mit 23 nach Berlin ausgewandert, ohne zu wissen, was mich hier erwartet. Meine Pläne haben sich immer wieder geändert. Zuerst wollte ich Journalistin werden. Dann merkte ich, dass mich Modedesign so sehr interessiert, dass ich meine ganze Arbeitskraft darauf fokussieren möchte. Solange ich in prekären Verhältnissen lebe, werde ich deshalb auch an der Verlosung zum Grundeinkommen teilnehmen. Drücken Sie mir die Daumen.

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bild: laurent burst
Harryet Lang zog nach ihrem Studium an der Modedesignschule in Zürich nach Berlin. Dort entwirft sie seit sechzehn Jahren Männerkollektionen und entwickelt Berufskleidung.
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54 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Grundi72
16.05.2016 11:49registriert Dezember 2015
Frau Lang ist nun mittlerweile doch schon 40 Jahre alt und offensichtlich als Modedesignerin gescheitert. Wenn ich sie wäre, würde ich mir eine Job suchen mit welchem sie überleben kann. Zum ihrem eigenen Wohl, aber auch zum Wohl der Allgemeinheit.

Sehe grundsätzlich nicht ein, warum hier der Staat ein anscheinend nicht wettbewerbsfähiges Unternehmen, respektive Selbstverwirklichungs-Träumereien mit Steuergeldern subventionieren soll.

Es kauft ja nun niemand plötzlich ihre Mode und das ist ja (meiner Meinung nach) ihr grösstes Problem.

Aber : nice try watson!
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stadtzuercher
16.05.2016 11:40registriert Dezember 2014
Viele junge Menschen starten so ihre Firma. Quersubventionieren während einigen Jahren ihre unbezahlte Arbeit mit Einkünften aus Teilzeitstellen. Sowas kann man machen wenn man jung ist. Aber irgendwann muss ein Geschäft auch Einnahmen bringen, sonst ist die Idee oder das Angebot einfach nicht nachgefragt.
Besser als staatliche Subventionierung sind offene, attraktive nicht-diskriminierende Märkte (kein Filz, keine Vetternwirtschaft, keine Diskriminierung von kleinen Firmen etc), wo auch Jungunternehmer bei passender Attraktivität ihres Angebots Fuss fassen können.
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der Denker
16.05.2016 11:44registriert März 2016
Wenn man mit seinem Job nicht genügend Geld verdient um zu leben, sollte man sich villeicht einen anderen suchen.
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