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Die tragische Geschichte der jahrzehntelang verschollenen Gletscherleichen

HANDOUT - Verwitterte Kleider, Bergschuhe und andere Gegenstaende, die auf dem Tsanfleuron-Gletscher im Gebiet des Glacier 3000 oberhalb von Les Diablerets VD am Donnerstag, 13. Juli 2017 zusammen mit ...
Diese Leichen gab der Gletscher im Waadtland frei.Bild: GLACIER 3000

Das Geheimnis der Gletscherleichen ist endgültig gelüftet

Fast hundert Jahre lang lagen eine Frau und ein Mann im Eis begraben. Nun gab der Gletscher bei Les Diablerets VD die beiden frei. Und ihre tragische Geschichte. Die Walliser Polizei bestätigt die Version einer 79-jährigen Frau.
19.07.2017, 06:4019.07.2017, 10:12
Sabine Kuster / Nordwestschweiz
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Einmal von einer Spalte verschluckt, behalten die Gletscher ihre eiskalten Geheimnisse. Doch wegen der steigenden Temperaturen nicht mehr für immer. Im Kanton Wallis bei Les Diablerets hat der Tsanfleuron-Gletscher zwei Menschen frei gegeben.

75 Jahre im Eis. Gletscher gibt vermisste Eltern frei

Video: srf

Gefunden wurden sie letzte Woche von einem Pistenbully-Fahrer. Die Walliser Kantonspolizei brachte die beiden Leichen ins Institut für Rechtsmedizin in Lausanne. Bereits da war klar: Es waren eine Frau und ein Mann aus der Kriegszeit, die auf dem Gletscher starben. Denn ihre Kleidung mit den genagelten Schuhen war für diese Zeit typisch.

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Update: Leichen sind formell identifiziert
Die beiden leblosen Körper, die vergangene Woche auf dem Tsanfleuron-Gletscher gefunden wurden, sind laut Walliser Polizei formell identifiziert. Es handelt sich um die seit dem 15. August 1942 vermissten Marcelin und Francine Dumoulin. (wst/sda)

Doch schon bevor die Resultate der Rechtsmedizin vorlagen, ist sich eine Walliserin sicher, wer da gefunden wurde: ihre Eltern. Zu gut passt der Fund zu dem, was die inzwischen 79-jährige Frau über den Tod ihrer Eltern weiss. Die welsche Zeitung «Le Matin» erzählte gestern ihre bewegende Geschichte.

Marceline Udry-Dumoulin mit einem Foto ihrer Eltern. Sie ist überzeugt, dass es sich beim Leichenfund um sie handelt.
Marceline Udry-Dumoulin mit einem Foto ihrer Eltern. Sie ist überzeugt, dass es sich beim Leichenfund um sie handelt.bild: twitter/lematin

Am 15. August 1942 aufgebrochen

Marceline Udry-Dumoulin wurde mit vier Jahren Waise, zusammen mit ihrer Schwester und fünf Brüdern. Ihre Eltern machten sich am 15. August 1942 von ihrem Dorf Chandolin im Wallis auf den Weg zu einer Berner Alp, wo sie ihr Vieh füttern und noch am selben Tag zurückkehren wollten. Der Vater war Schuster, die Mutter Lehrerin, doch sie hielten wie die meisten Leute damals Vieh. «Es war das erste mal, dass meine Mutter den Vater begleitete, denn in den Sommern davor war sie immer schwanger gewesen», erzählt Marceline Udry-Dumoulin.

Die Frau ist sichtlich bewegt. «Wir haben immer nach ihnen gesucht», sagt sie, «aber wir haben nicht mehr geglaubt, ihnen eines Tages die letzte Ehre zu erweisen, wie sie das verdient haben. Nach 75 Jahren des Wartens hat mich diese Nachricht sehr erleichtert.» Ihre Eltern kehrten von dieser Wanderung über den Gletscher zur Alp nie zurück. Im Dorf suchte man bis in den Herbst erfolglos nach ihnen in verschiedenen Gletscherspalten. Die Tochter erinnert sich nur noch daran, wie ihre Tante auf der Treppe des Hauses weinte und das Mädchen in die Arme nahm. Wenig später wurden die sieben Geschwister getrennt und auf verschiedene Familien verteilt. «Ich hatte Glück und konnte bei der Tante bleiben», sagt Marceline Udry-Dumoulin.

Gedenkmesse auf dem Gletscher

Die Geschwister und sie seien sich durch die Distanz fremd geworden, obwohl alle in der Region wohnten. Bis ein Bruder, ein Priester, 1957 eine Gedenkmesse auf dem Gletscher organisierte. «Das war ein grosser Moment der Wiedervereinigung für uns», sagt die Tochter. Sie selber stieg drei mal auf den Gletscher, in der Hoffnung, die Eltern zu finden. Doch erst jetzt zeigte sich das Eis gnädig.

Marceline trägt den weiblichen Vornamen ihres Vaters Marcelin und wohnt noch in ihrem Geburtsdorf. Nun kann sie sich endlich richtig von beiden verabschieden. Sie sagt: «Zur Beerdigung werde ich nicht schwarz tragen. Ich denke, weiss wird passender sein. Das steht für die Hoffnung, die ich nie verloren habe.»

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10 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mia_san_mia
19.07.2017 10:03registriert Januar 2014
Wow das ist wirklich eine bewegende Geschichte...
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Baba ♀️
19.07.2017 07:49registriert Januar 2014
Eine bewegende Geschichte. Es muss unglaublich sein, nach so langer Zeit endlich Gewissheit zu haben...
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ELMano
19.07.2017 07:59registriert Juli 2017
Sehr bewegend - zumal ich mit meiner Familie als Kind im Val d'Anniviers jeden Winter skifahren war. Die hochalpinen Dimensionen dieses Bermassivs sind mir sehr eindrücklich in Erinnerung... ("fahrt ab da biiiiitte nicht mehr abseits der Piste!) - aber die Story ist sehr schön, da hat sich die Hoffnung trotz der ganzen Tragik bewahrheitet!

Watson: top, weiter solche Geschichten - ihr seid eine sehr erfrischende Option zur bekannten Tageszeitung!
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