Das Wetter ist trüb und kalt. Nur wenige Leute sind am Samstagmorgen auf dem Lindenplatz in Zürich-Altstetten unterwegs. Es sind suboptimale Bedingungen für das bürgerliche «Top5»-Stadtratsbündnis, um die Wählerschaft anzusprechen. Entsprechend lustlos ist die Stimmung, daran können auch die Frauen im Löwenkostüm wenig ändern.
Dabei haben die Top 5 (je zwei Kandidaten von FDP und SVP und einer von der CVP) grosse Ambitionen. Sie wollen bei den Wahlen am 4. März die Dominanz der rotgrünen Parteien in der Stadtregierung beenden, die auf den Tag genau 28 Jahre zuvor begonnen hat. Was schwierig werden dürfte, und das nicht nur wegen der geringen Frequenz auf dem Lindenplatz.
Altstetten liegt im Westen von Zürich. Es ist nicht zu verwechseln mit dem trendigen und etwas sterilen Ex-Industriequartier Zürich-West. Altstetten wirkt eher bieder, aber auch hier wurde und wird viel gebaut. Was einer der Gründe ist, warum der bürgerliche Wendetraum scheitern dürfte.
Denn Zürich boomt seit Jahren. Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Sogwirkung der «Little Big City» oder «Downtown Switzerland» – zwei ehemalige Werbeslogans von Zürich Tourismus – scheint ungebrochen. Der Trend in die urbanen Zentren mag ein globales Phänomen sein, er vermindert aber auch die Chancen für einen Wandel.
Eine Wechselstimmung ist in Zürich nicht vorhanden, zum Ärger der FDP-nahen NZZ, die fast verzweifelt versucht, die bürgerliche Wende herbeizuschreiben. Ein von der «Weltwoche» rekrutierter Redaktor verglich das rotgrüne Zürich letztes Jahr in einem polemischen Beitrag mit dem schwedischen «Volksheim». Der pensionierte Chefredaktor der «NZZ am Sonntag» echauffierte sich über das links-grün-soziale «juste milieu», das Zürich im Beamtenstil regiere.
Völlig daneben ist die Kritik nicht. Der neunköpfige Stadtrat, in dem Rotgrün zwei Drittel der Sitze hält (4 SP, 1 GP, 1 AL gegen 2 FDP und 1 CVP), ist durch eine träge Verwaltermentalität geprägt. Selten zeigte sich das so deutlich wie beim Eklat von letzter Woche, als SP-Gesundheitsdirektorin Claudia Nielsen nur dreieinhalb Wochen vor der Wahl Knall auf Fall ihren Rücktritt erklärte.
Die Begründung mit aufgetauchten Unregelmässigkeiten bei der Verbuchung von Arzthonoraren im Triemli-Spital wirkt vorgeschoben. Nielsens Probleme waren seit langem bekannt, etwa ihr ruppiger Führungsstil. Ihre konfuse Strategie für die hochdefizitären Stadtspitäler Triemli und Waid stiess in der zuständigen Gemeinderatskommission sogar bei der eigenen Partei auf Ablehnung.
Der Stadtrat aber blieb passiv und stellte der offensichtlich überforderten Claudia Nielsen erst im letzten Herbst einen «Beistand» zur Seite. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Führungsqualitäten von SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch. Mit dem abrupten Rücktritt brüskierte Nielsen auch ihre Partei, die ihren Sitz kampflos preisgibt, weil sie kurzfristig keinen valablen Ersatz finden konnte.
Nach dem Nielsen-Eklat bleiben Fragen offen. Die NZZ wittert bereits Morgenluft. Die Schwäche der SP «erhöht die Chance für eine liberale Politik», heisst es in einem Kommentar vom Samstag. Das dürfte verfrüht sein, doch der Stadtrat ist nicht nur personell in Unterform. Man vermisst innovative Ideen, und das in einer Stadt, die sich als kreative IT-Metropole verkauft.
Das grösste Problem aber sind die fehlenden Visionen für die Zukunft. Die Bevölkerung hat seit dem Tiefpunkt im rotgrünen «Wendejahr» 1990 mit etwas mehr als 350'000 auf knapp 430'000 Einwohner zugenommen. Diese Entwicklung dürfte sich fortsetzen. Die Bevölkerungsszenarien gehen davon aus, dass Zürich bis 2030 auf 470'000 bis 520'0000 Einwohner anwachsen wird.
Dafür muss Wohnraum geschaffen werden. Angesichts der immer knapperen Baulandreserven geht das nur durch Verdichtung. Ein klares Konzept des Stadtrats aber ist nicht vorhanden. Ein weiteres Problem ist die Infrastruktur. In diesem Bereich hinkt die Planung bei den Schulbauten oder dem öffentlichen Verkehr bereits heute der rasanten Entwicklung hinterher.
Wenn Stadtpräsidentin Corine Mauch sich über den Vorwurf ihres FDP-Herausforderers Filippo Leutenegger lustig macht, sie würde «den Erfolg verwalten», hat sie nur bedingt recht. Die Verwaltermentalität im Stadtrat ist ein Hindernis für eine zukunftsgerichtete Politik. Nur fällt das für die wenigsten Einwohner bislang ins Gewicht. Dafür ist die Stadt eben zu erfolgreich.
Zürich ist attraktiv. In internationalen Rankings zur Lebensqualität ist die Limmatstadt weit oben platziert. Die öffentlichen Dienstleistungen funktionieren, und das Freizeitangebot ist für eine Stadt dieser Grösse einmalig. Man fühlt sich wohl im rotgrünen Zürich.
Eingetrübt wird diese Befindlichkeit durch die Wohnkosten, sie bilden die Kehrseite des Erfolgs. Wer nicht mit Glück oder Geschick an eine gemeinnützige Wohnung kommt, zahlt häufig eine exorbitante Miete. Entsprechend gross ist der Gentrifizierungsdruck. Die einst verrufene Langstrasse hat er voll erfasst. Nun gerät Schwamendingen auf den Radar.
Auf das Wohlbefinden der Menschen haben die hohen Mieten aber kaum Auswirkungen. Im Gegenteil, die alle zwei Jahre durchgeführte Bevölkerungsbefragung spricht eine klare Sprache. Laut den neusten Zahlen von 2015 leben 98 Prozent der befragten Zürcherinnen und Zürcher gerne oder sehr gerne in der Stadt. Solche Werte findet man sonst nur in Diktaturen.
Damit nicht genug: Für 79 Prozent entwickelt sich Zürich in die richtige Richtung. Immerhin 50 Prozent finden, dies könnte dynamischer geschehen, was sich als leise Kritik an der stadträtlichen Verwaltermentalität interpretieren liesse. Der Verlust an Freiräumen, über den sich Jüngere und Linksalternative beklagen, wird hingegen kaum als Manko empfunden.
Was Angela Merkel im letztjährigen Wahlkampf über Deutschland sagte, lässt sich über Zürich erst recht behaupten: Man lebt gut und gerne hier. Aber man muss es sich leisten können und wollen. Der Anteil der Einwohner mit hohem Status (gut ausgebildet und verdienend) hat stetig zugenommen und macht fast 50 Prozent aus. Die Zahl der Menschen mit mittlerem oder tiefem Status hingegen nimmt ab. Sie werden in die Agglomeration verdrängt.
Gutsituierte wären an sich empfänglich für bürgerliche oder zumindest liberale Rezepte, da hat die NZZ durchaus recht. Denn Zürich ist nicht nur bei den Mieten eine teure Stadt. Die Steuern gehören zu den höchsten im Kanton. Gleiches gilt für die Krankenkassenprämien, die im NZZ-Politbarometer sogar die Wohnkosten als grösstes Problem abgelöst haben.
Mit einem beherzten Wahlkampf könnten die Bürgerlichen die rotgrüne Selbstzufriedenheit durchaus erschüttern. Doch er ist genauso unterkühlt wie die Temperaturen am Samstag auf dem Lindenplatz in Altstetten. Obwohl FDP, SVP und CVP so geeint wie lange nicht auftreten, vermitteln sie keine Aufbruchstimmung. Auf der Personalseite sieht es noch magerer aus.
Neben «Alphatier» Filippo Leutenegger kandidiert Gemeinderat Michael Baumer, den die FDP der profilierten Nationalrätin Doris Fiala vorgezogen hat. Trotzdem hat er gute Chancen, den zweiten Sitz der Freisinnigen zu verteidigen. Die SVP-Kandidaten Susanne Brunner und Roger Bartholdi hingegen können noch so moderat auftreten, so lange ihre Partei den Blocherismus praktiziert, sind sie für einen erheblichen Teil der urbanen Bevölkerung aus Prinzip unwählbar.
Das interessanteste Profil hat CVP-Kandidat Markus Hungerbühler. Er ist schwul und zieht mit seinem Partner eine Tochter auf, die von einer Leihmutter in den USA geboren wurde. In den schwarzen CVP-Stammlanden wäre er damit eine Art Gottseibeiuns. Im «bunten» Zürich ist sein grösstes Problem die Partei. Der Wähleranteil der CVP ist 2014 unter fünf Prozent gefallen. Das ist für ein Mandat im neunköpfigen Stadtrat ein sehr dünnes Polster.
Die linksgrünen Parteien können sich deshalb trotz des Nielsen-Fiaskos zurücklehnen. Als «Ersatz» scheint die «melonengrüne», also innen rote Karin Rykart gesetzt. Auch der linksalternative Polizeivorsteher Richard Wolff hat mehr als intakte Wahlchancen, obwohl er einen dicken «Tolggen» im Reinheft hat. Erst letztes Jahr «bemerkte» er, dass seine Söhne auf dem besetzten Koch-Areal in Albisrieden verkehren und er dieses Dossier besser abgeben sollte.
Die Versuche der Bürgerlichen, diesen Fehltritt auszuschlachten, scheinen fruchtlos zu sein. Am ehesten können sie auf Sitzgewinne im Gemeinderat hoffen. Im Stadtrat hingegen droht ihnen sogar der Worst Case, der Verlust eines weiteren Sitzes. Denn der grünliberale Andreas Hauri hat gemäss Umfragen von NZZ und Tages-Anzeiger reelle Wahlchancen, obwohl er sich als «Einzelmaske» durchschlagen muss.
FDP-Kandidat Michael Baumer zeigt sich im Gespräch (zweck-)optimistisch: «Ich denke, dass es für drei oder sogar vier Sitze reichen wird.» Wie das geschehen soll in einer Stadt, in der die Zufriedenheitsquote ein «sowjetisches» Ausmass erreicht und eine satte Mehrheit einen positiven Trend erkennt, bleibt schleierhaft. Es geht den Leuten im rotgrünen Wohlfühl-Zürich zu gut.
«Die Schmerzgrenze ist womöglich noch nicht erreicht», räumt CVP-Mann Markus Hungerbühler ein. Die Top 5 wollen unverdrossen weiterkämpfen und sich bis zum Wahltag jeden Samstag in den Stadtquartieren präsentieren. Und dem Traum von der bürgerlichen Wende hinterher jagen, der nicht wahr werden wird.