Sina wohnt in Zürich. Hier arbeitet sie, seitdem sie das Studium abgeschlossen hat. Hier wohnen ihre Freunde, hier verbringt sie ihre Freizeit. Offiziell ist die 29-Jährige allerdings noch im Bündnerland bei ihren Eltern gemeldet – und profitiert dort von günstigeren Steuern und Krankenkassenprämien. Sina ist eine von rund 15’000 Wochenaufenthalterinnen in der Limmatstadt.
Auch in anderen Schweizer Städten stellen die Wochenaufenthalter eine bedeutende Bevölkerungsgruppe dar. Nicht nur zur Freude der zuständigen Verwaltungen. Denn diese Einwohner profitieren zwar vom ÖV, der Abfallentsorgung und dem Kulturangebot in der Stadt – ihre Steuern zahlen sie aber anderswo. Alexander Tschäppät, SP-Nationalrat und ehemaliger Stadtpräsident von Bern, will dieser Praxis nun einen Riegel schieben.
In einer Motion verlangt er vom Bundesrat, dass die betroffenen Personen künftig auch an ihrem zweiten Wohnsitz Steuern entrichten sollen. In welchem Umfang, lässt er offen.
Er spricht von einer Frage der Steuergerechtigkeit: «Es ist nicht fair, wenn die Wochenaufenthalter bei uns die gesamte Infrastruktur nutzen, sich aber in ihrer Heimatgemeinde günstig besteuern lassen, von tieferen Krankenkassenprämien profitieren – und erst noch Abzüge für den Wochenaufenthalt geltend machen können.»
Mit einem Automatismus erübrigten sich auch die mühseligen Abklärungen der Behörden, argumentiert Tschäppät weiter. «Für die Betroffenen ist es entwürdigend, wenn sie ihre Lebenssituation gegenüber der Verwaltung detailliert darlegen müssen. Und die Verwaltung hat aufgrund der Datenschutzbestimmungen auch immer weniger Möglichkeiten, die Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.»
Dazu komme das Argument der «kalten Betten»: «Wochenaufenthalter beanspruchen in zwei Gemeinden Wohnraum – obwohl dieser ohnehin knapp ist.» Dies steuerlich auch noch zu begünstigen, sei nicht zeitgemäss, findet Tschäppät.
Tatsächlich stellt der Umgang mit Wochenaufenthaltern die Städte zunehmend vor Probleme, wie eine watson-Recherche zeigt. Jährlich müssen in Zürich rund hundert Personen in einem ausserordentlichen Gesuch darlegen, warum sie ihren Status behalten wollen. Für die Beurteilung der Fälle werden Spezialisten beigezogen, gegen negative Entscheide können Betroffene beim Stadtrat Beschwerde einlegen. So weit kommt es in zwei bis drei Fällen pro Jahr.
Auch in Bern halten die Abklärungen die Verwaltung auf Trab. Fünf Mitarbeiter sind in der Bundesstadt eigens dafür angestellt, die Angaben von Wochenaufenthaltern zu überprüfen.
«Wir beobachten seit einigen Jahren eine Tendenz, dass es nicht mehr so einfach ist, Wochenaufenthaltende genau einzugrenzen», sagt Nat Bächtold, Sprecher des Zürcher Präsidialdepartements. Zwar machten Studenten, die unter der Woche in einem WG-Zimmer in Zürich leben und am Wochenende zur Familie zurückfahren, immer noch die Mehrheit der Fälle aus. Daneben gebe es aber vermehrt auch andere Konstellationen.
Grund dafür seien neue Arbeits- und Familienformen, so Bächtold: «Wenn eine Patchwork-Familie zwei Wohnungen an zwei Orten hat, wenn nicht nur am Arbeitsort, sondern zum Beispiel auch mobil und/oder im Homeoffice gearbeitet wird: Wo ist dann der Niederlassungsort und wo der Aufenthaltsort?» Solche Fragen sorgten in der Stadtverwaltung für rauchende Köpfe. Man werde die Debatte über Tschäppäts Vorstoss deshalb mit Interesse verfolgen, so Bächtold.
Im Parlament dürfte die Motion allerdings einen schweren Stand haben. «Die Regelung, dass man dort Steuern zahlt, wo man seinen Lebensmittelpunkt hat, hat sich bewährt», findet etwa der Bündner CVP-Ständerat Stefan Engler. Aus seinem Kanton stammen die meisten in Zürich gemeldeten Wochenaufenthalter. «Tschäppäts Vorschlag würde all jene bestrafen, die nicht das Privileg haben, ihre Ausbildung in ihrem Heimatkanton zu absolvieren», kritisiert er.
Korrigendum: In einer früheren Version dieses Artikels wurde Stefan Engler fälschlicherweise als Bündner Nationalrat bezeichnet. Er vertritt den Kanton Graubünden als Ständerat. Wir bitten um Entschuldigung für den Fehler.