Ausgerechnet heute. Heute, wo selbst die ARD ihn interviewen möchte. Charles Probst verwirft die Hände. «Sie müssen lauter sprechen», sagt der 86-Jährige und fügt erklärend hinzu: «Ich habe mein Hörgerät zu Hause liegen lassen.» Die angereisten Journalisten interessieren sich vor allem für eines: seine Kindheit.
Früher hat Charles Probst über seine Zeit als Verdingkind geschwiegen. Erst seit wenigen Jahren spricht er öffentlich darüber.
«Im Februar 1931 wurde meiner Mutter und meinem Stiefvater durch die Behörden die elterliche Gewalt entzogen, weil sie noch keinen gemeinsamen Haushalt führten und die Behörden deshalb die Kindspflege bemängelten. Knapp einjährig platzierte mich die Vormundschaft bei Pflegeeltern in Lyssach.»
Hunderttausenden Kindern in der Schweiz ist es wie Charles Probst ergangen. Sie wurden ihren Eltern entrissen, fremdplatziert, in Familien, für die sie meist vor allem eines waren: billige Arbeitskräfte. Auch Charles Probst.
«Ich musste bei allen Arbeiten auf dem Feld und im Stall tüchtig mitanpacken. Zum Glück war ich bald mit den Tieren vertraut. Besonders am Herzen lag mir das Pferd, das ich anleiten und führen durfte. Ein prächtiger Schimmel.»
Lange sprach niemand über das Leiden der Verdingkinder. Das dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte wurde ignoriert. Erst nach der Jahrtausendwende begann der Prozess der Aufarbeitung. Dazu beigetragen hat auch die Ausstellung «Verdingkinder reden», die im März 2009 im Politforum Käfigturm in Bern Vernissage feierte.
Grund genug, das Thema nun ein weiteres Mal im Veranstaltungszentrum der Eidgenossenschaft aufzugreifen. Die aktuelle Ausstellung «Verdingkinder, Portraits von Peter Klaunzer» zeigt Aufnahmen von 25 früheren Verdingkindern und Texte, in denen sie aus ihrer Kindheit erzählen.
Ihre Biografien schriftlich festgehalten hat Walter Zwahlen, Präsident netzwerk-verdingt. Auch Charles Probst erzählt darin seine Geschichte.
«Wie die meisten Verdingkinder war ich Bettnässer. Weil die Bettwäsche im Winter schlecht trocknete, musste ich im Stall im Stroh übernachten. Aber ich hatte einen treuen Begleiter, den Hofhund.»
Das Erwachsenwerden befreite Charles Probst. «Als ich 20 Jahre alt war, konnte ich endlich meine eigenen Entscheidungen treffen», sagt Probst. «Mein eigenes Leben führen.»
Ein Leben, über dem die Zeit als Verdingkind bis heute jedoch wie ein Schatten liegt. «Das kannst du nicht einfach abstreifen», sagt Probst. Noch heute gebe es Nächte, in denen er wach liegt, zurück in seiner Kindheit.
Vor allem eine Erinnerung geht ihm nicht mehr aus dem Kopf – der Tag, als sein erster Pflegevater ihn zusammenschlug. «Heute verstehe ich ihn. Ich hatte meine Pflegemutter, seine Ehefrau, im Stich gelassen, hatte so lange ‹gschtürmt›, bis sie mir erlaubte, mit meinen Freunden in die Badi zu gehen, statt ihr auf dem Feld zu helfen. Ich weiss nicht, wie sie die Arbeit ohne mich geschafft hat. Es war das einzige Mal, dass mein erster Pflegevater mich zusammenschlug. Es waren gute Leute.»
Doch Charles Probst erging es wie vielen Verdingkindern. Die Behörde entriss ihn ein weiteres Mal aus einer Familie. «Ich wurde an einen anderen Pflegeplatz weitergereicht, wo es aber nach kurzer Zeit zu Schwierigkeiten kam. Schon als Viertklässler wurde ich als Arbeitskraft missbraucht, regelmässig verprügelt und bestraft.»
«Ich riss aus, wurde anderntags von der Polizei aufgegriffen und durch den Vormund in eine Arbeitsanstalt für schwererziehbare Knaben eingewiesen.»
Erst 2013 hat sich der Bundesrat «von ganzem Herzen» bei den Verdingkindern entschuldigt. Und im laufenden Jahr stimmten die beiden Räte einem Solidaritätsbeitrag zu, um ehemalige Verdingkinder und andere Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen finanziell zu unterstützen.
Das angerichtete Leid kann aber nicht wiedergutgemacht werden. Auch nicht bei Charles Probst.
«Als ich etwa zehn Jahre alt war, kam es beim Abwaschen zum Streit zwischen mir und den Töchtern. Ich drohte ihnen, ich würde es der Mutter melden, doch sie entgegneten: ‹Du hast gar keine Mutter!› Ich verstand die Welt nicht mehr, wollte meinem Leben ein Ende machen. Nur war das hinter der Haustür deponierte Langgewehr grösser als ich.
Ich versuchte den Lauf in den Mund zu nehmen und abzudrücken. Zum Glück war ich zu klein und meine Arme zu kurz. Der Schuss ging los, die Kugel streifte den Ringfinger meiner rechten Hand und landete in der Decke.»
Damals fand man es wohl richtig, heute unvorstellbar.
Ausser in China, Bangladesh, Nigeria, etc.
Heute müssen wir billiger produzieren können.
Keine billigproduktion ohne Sklaverei. Egal ob Erwachsene oder Kinder.