Im Oktober 2015 wird Tim Guldimann mit einem Glanzresultat in den Nationalrat gewählt. Der erfahrene Diplomat gilt als Zugpferd der Sozialdemokraten und soll dem ebenfalls frisch gewählten Roger Köppel die Stirn bieten können.
Mit seinem jetzigen Rücktritt stösst Guldimann viele vor den Kopf. Vor allem, weil der Grund für die Niederlegung des Amtes absehbar gewesen wäre. Nur einer dürfte sich über den Abgang besonders freuen.
Die wichtigsten Eckdaten zu Guldimanns Auf- und Abtritt, erklärt in fünf Akten.
Tim Guldimann gilt als erfahrener Top-Diplomat, als er 2015 sein Amt als Schweizer Botschafter in Berlin beendet. Er liebäugelt mit einer Kandidatur für den Nationalrat. Gegenüber dem «Blick» sagt er: «Ich verstehe mich als Stimme der 750'000 Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen, die einen Anspruch haben, in der Politik besser vertreten zu sein.»
Denn Guldimann will sein Amt von Berlin aus ausführen. Dort lebt er mit seiner Frau, der deutschen «Spiegel»-Journalistin Christiane Hoffmann und zwei Kindern. Doch seine Heimat sei und bleibe Zürich, sagt er. Für die vier Sessionen und zehn Kommissionssitzungen müsste er pro Jahr rund 20-mal von Berlin nach Bern fliegen. Akzeptiert ihn die SP, Verfechterin einer 2000-Watt-Gesellschaft, als Kandidaten?
Ja, mit Handkuss. Schliesslich gilt Guldimann als bekanntester Schweizer Diplomat. Er war an wichtigen Krisenherden als Vermittler im Einsatz: In Tschetschenien, im Kosovo, im Iran, in der Ukraine. Guldimann ist ein Intellektueller mit Promi-Status – einer, den die Sozialdemokraten jetzt im Nationalrat gebrauchen können. Insbesondere weil auch Weltwoche-Chef Roger Köppel ins Parlament einziehen will. In Guldimann sehen sie einen, der Köppel die Stirn bieten kann.
Guldimann wird von den Sozialdemokraten «nur» an 10. Stelle auf die Wahlliste gesetzt. Trotzdem gilt er als ihr Zugpferd. Als ehemaliger Spitzendiplomat ist er zusammen mit Roger Köppel die schillernde Figur des Wahlkampfes.
In Doppelinterviews kreuzen sich die zwei Politiker die Klingen. Hauptstreitpunkt: Die Beziehung der Schweiz zur Europäischen Union. Guldimann ist für den Beitritt in die EU, während Köppel auf eine strikte Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative pocht.
Zum Showdown vor den Wahlen kommt es während der «20-Minuten-Fight-Night». Guldimann und Köppel treten im Zürcher Kaufleuten zum als Boxkampf stilisierten Rededuell gegeneinander an. Die Themen der Debatte sind die üblichen: Asyl, Einwanderung, EU. Köppel kann sich laut Medienberichten besser halten und steigt aus Sieger aus dem Ring.
Mit Köppel, Guldimann und Martullo Blocher sind es drei prominente Quereinsteiger, denen am 18. Oktober der Einzug ins nationale Parlament gelingt. Guldimann ist damit der erste Auslandschweizer im Nationalrat.
Er erzielt ein Glanzresultat und holt sich 102'757 Stimmen. Sie hieven ihn damit vom 10. auf den 4. SP-Listenplatz – noch vor die Bisherigen Martin Naef und Thomas Hardegger.
Die Medien verpassen dem frisch gebackenen Nationalrat den Spitznamen «International-Rat». Doch kaum gewählt, geben seine Reisespesen zu Reden. Es wird bekannt, dass der Bund für die ohnehin schon kritisierte Pendlerei zwischen Berlin und Zürich aufkommt. Pro Sessionswoche soll dem Politiker ein Hin- und Rückflug in der Economy vergütet werden. Auf die Frage, ob ein Umzug in die Schweiz zur Diskussion stehe, sagt Guldimann: «Ich bin Auslandschweizer, und Auslandschweizer wohnen im Ausland.»
Zwar gilt Guldimann, der seit 1982 SP-Mitglied ist, als Schwergewicht der Linken, doch als Nationalrat politisiert er zurückhaltend und nur am Rande. Acht Vorstösse sind es, die Guldimann seit seiner Amtseinführung vor zweieinhalb Jahren vorbringt.
In einer Motion beantragt er, zu Prüfen, ob das E-Voting für Auslandschweizer bis 2019 einzuführen sei. Auch setzt er sich dafür ein, dass Auslandschweizer darüber informiert werden, wenn sie von der Änderung eines Gesetzesartikels betroffen sind. Der Bundesrat lehnt beide Vorstösse ab.
Im Gespräch bleibt Guldimann vor allem, wenn Journalisten ihn nach seiner Expertise zu Deutschland-spezifischen Fragen bitten oder ihn nach seinen Kenntnissen als Vermittler in Krisensituationen fragen. In der Politik scheint Guldimann nie so richtig anzukommen. Den Mantel des Experten und Diplomaten kann oder will er nicht ablegen.
Ein Jahr nach seiner Amtseinführung bilanziert er in der «Südostschweiz»: «Im Nationalrat realisierte ich, dass Politiker ein Beruf ist. In meinen Gebieten kenne ich mich zwar inhaltlich aus, aber das Mécano der Politik muss ich noch lernen. Nach einem Jahr komme ich erst langsam rein.»
Doch dazu kommt es nicht. Eineinhalb Jahre später, am vergangenen Sonntagabend gibt Guldimann in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» seinen Rücktritt aus dem Nationalrat bekannt. Ende der Frühlingssession will er sein Mandat niederlegen.
Er begründet seine Entscheidung damit, dass es schwierig sei, «in einem Milieu zu leben und in einem anderen Milieu Politik zu machen». Um diese Distanz zu überwinden, hätte er viel mehr Zeit im Kanton Zürich verbringen müssen. Diesen Anspruch an die Ausübung des Nationalratsmandats könne er jedoch mit seinem Anspruch an sich selber als Familienvater nicht in Einklang bringen.
Obwohl diese Argumentation verständlich scheint, ärgern sich Kritiker: Wäre das nicht absehbar gewesen?
Einer dürfte sich über den Abtritt von Nationalrat Guldimann freuen: Parteikollege Fabian Molina. Er übernimmt den frei werdenden Sitz von Guldimann und wird als 27-Jähriger das nationale Parlament schon im kommenden Frühling verjüngen. Im Blick lässt er sich zitieren: «Nach dem ersten Schock freue ich mich aber auf dieses Amt und hoffe, dass ich dieser grossen Verantwortung gerecht werde.»
Es ist nicht das erste Mal, dass es Molina durch Nachrücken in ein höheres politisches Amt schafft. 2014 löst er David Roth als Juso-Chef ab, nachdem sich neben ihm niemand sonst für den Posten beworben hat. Im Sommer 2017 rückt er im Zürcher Kantonsrat für die abgetretene Sabine Sieber nach. Ganz scheint es, als gäbe es immerhin einer, der von der Sesseltauscherei profitiert.