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Wenn Sie wissen wollen, ob Sie sich von Umfragen beeinflussen lassen, sollten Sie dieses Interview lesen 

Politologe Thomas Milic in der Sendung «Schawinski» auf SRF.
Politologe Thomas Milic in der Sendung «Schawinski» auf SRF.Bild: Screenshot SRF
Aufreger VOX-Analyse

Wenn Sie wissen wollen, ob Sie sich von Umfragen beeinflussen lassen, sollten Sie dieses Interview lesen 

Warum wir manchmal wie in einer Castingsendung für den Underdog stimmen. Und warum das trotzdem keinen Einfluss auf das Ergebnis hat. Politologe Thomas Milic erklärt im Interview das Phänomen Umfragen. 
24.04.2014, 08:4523.06.2014, 10:00
Simon Jacoby
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Herr Milic, lässt sich das Stimmvolk von Abstimmungsumfragen beeinflussen?
Thomas Milic: Nein, das glaube ich nicht. Für die Schweiz gibt es eine wichtige Studie zu diesem Thema und die kommt zum Schluss, dass Umfragen keinen Einfluss auf den Stimmentscheid haben. 

Weshalb sind Umfragen dennoch so hoch im Kurs?
Für die Umfragen interessieren sich primär Parteien und Interessenorganisationen, die den Abstimmungskampf führen. Und natürlich sind die Informationen auch für das Stimmvolk wertvoll.

Inwiefern?
Warum soll man nicht wissen dürfen, was andere Stimmbürger und allenfalls die Mehrheit über Sachfragen denken? Auch ohne Umfragen würden sich die meisten Stimmbürger für die Meinung ihrer Arbeitskollegen oder in ihrem sozialen Umfeld interessieren. Für mich persönlich ist das eine wichtige Information, die den Stimmbürgern nicht vorenthalten werden soll.

«Problematisch wird es, wenn nur bestimmte Gruppen aktiviert werden.»
Thomas Milic

Wäre es denn problematisch, wenn Umfragen einen Einfluss auf die Mobilisierung der Stimmbürger haben?
Nicht zwingend. Eine hohe Stimmbeteiligung ist zunächst einmal wünschenswert. Problematisch wird es, wenn nur bestimmte Gruppen aktiviert werden. Also die Befürworter beispielsweise mobilisiert werden, während die potentiellen Verlierer der Urne aus Frust wegen den schlechten Prognosen fernbleiben. Das würde dann zu einer Verfälschung des Resultates führen.

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Thomas Milic
Thomas Milic (43) ist Politikwissenschafter an der Universität Zürich. Er gehört zu den profiliertesten Abstimmungsspezialisten der Schweiz und untersuchte mehrfach den Einfluss von Umfragen auf die Stimmbürger. Ab Juli gehört Milic zum Team von Longchamps GfS, behält aber seinen Lehrauftrag an der Universität. 

Werden Umfragen überhaupt beachtet?
Ja, vor allem von jenen, die sich sowieso stark mit Politik befassen. Dass sich solche «Politikfreaks» ausgerechnet von Umfrageergebnissen beeinflussen lassen, ist sehr unwahrscheinlich, weil sie ja noch eine Vielzahl weiterer Informationen nutzen. 

Gibt es einen Mitläufereffekt?
Im Prinzip ist das denkbar. In der amerikanischen Umfrageforschung nennt man diesen Effekt den «Bandwagon effect». Das heisst: Die Stimmbürger springen auf den führenden Wagen auf. Für Wahlen und Abstimmungen würde das bedeuten, dass die Stimmbürger einfach so stimmen wie die vermeintliche Mehrheit.  

«Man stimmt aus Mitleid für den Underdog, wie das bei Castingsendungen nicht selten geschieht.»
Thomas Milic

Ist auch das Gegenteil denkbar?
Prinzipiell ja: Man stimmt aus Mitleid für den Underdog, wie das bei Castingsendungen nicht selten geschieht. Es ist auch denkbar, dass einige nicht an die Urne gehen, weil sie die Abstimmung schon verloren glauben – oder umgekehrt gewonnen glauben. Vieles ist prinzipiell denkbar, aber gravierende Effekte auf das Stimmverhalten sind, wie gesagt, kaum je nachgewiesen worden. Vielleicht auch deshalb, weil sich diese Effekte letztlich gegenseitig neutralisieren.  

Wie wichtig sind Umfragen im Meinungsbildungsprozess?
Umfrageergebnisse sind nur einer von etlichen Faktoren, die zum Meinungsbildungsprozess beitragen. Wenn man die Befragungen verbieten will, weil sie den Stimmbürger angeblich beeinflussen, müsste konsequenterweise die gesamte politische Propaganda verboten werden. Nur so könnte der Stimmbürger seinen Entscheid völlig autonom fällen. Aber alleine schon dieses Bild vom autonom entscheidenden Stimmbürger ist unrealistisch und auch nicht wünschenswert. 

Warum nicht?
Der Stimmbürger tauscht sich mit anderen aus, diskutiert, wägt ab, orientiert sich an Empfehlungen und sollte das auch tun können. 

Warum stimmen die Prognosen der Umfragen oft nicht mit den Abstimmungsergebnissen überein? Machen die Politologen einen schlechten Job?
Häufig stimmten die Prognosen ja. Aber wenn sie ausnahmsweise nicht stimmen, erhalten sie eine umso grössere Publizität. Man sollte auch bedenken, dass zehn Tage vor dem Abstimmungssonntag keine Umfragen mehr publiziert werden dürfen. In diesen letzten Tagen kann es durchaus zu einer zusätzlichen Mobilisierung kommen, wie es beispielsweise bei der Masseneinwanderungsinitiative geschehen ist.

«Erstaunlich viele Menschen orientieren sich an Leserbriefen, weil sie glauben, dass sie darin die Stimme des Volkes hören.»
Thomas Milic

Wenn es nicht die Umfragen sind, was beeinflusst dann das Stimmvolk?
Vieles kann einen Einfluss haben. Aber generell gesprochen ist der Stimmbürger nicht so unkritisch und beliebig manipulierbar, wie manche vielleicht denken. Er kalkuliert durchaus und sucht sich auch die Information, die er braucht.  

Welche Informationsquelle werden von den Stimmbürgern normalerweise angezapft?
Erstaunlich viele Menschen achten auf Leserbriefe. Sie glauben, dass sie darin die Stimme des Volkes hören. Das zeigt wiederum, dass die Stimmbürger sehr daran interessiert sind, wie andere über eine Sachfrage denken. In Wahrheit nutzen natürlich Parteien und Interessenorganisationen die Leserbriefforen inzwischen systematisch. Und trotzdem denkt niemand daran, Leserbriefe zu verbieten. Nebst diesen Einflussfaktoren haben aber auch inhaltliche Argumente sowie Plakate, Inserate, Freunde und Bekannte einen Einfluss auf das Stimmverhalten.  

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