Wer ins eidgenössische Parlament gewählt wird, hat es geschafft. Er gehört zur politischen Elite, entscheidet über Gesetze, geniesst einige Privilegien. Und er hat mit einem überquellenden Briefkasten zu kämpfen. Täglich landen neue Verlockungen bei den 246 Parlamentariern. Mehrere Kilogramm Post pro Woche. Einladungen zu Apéros, Essen und «Parlamentarier-Dinners». Lobbygruppen buhlen aber auch mit Factsheets oder Broschüren um die Gunst der Volksvertreter.
Eine gute Stunde braucht Jonas Fricker bisweilen pro Tag, um seine Post zu bearbeiten. Der Aargauer sitzt für die Grünen seit vergangenem Dezember im Nationalrat. «Es ist beeindruckend, wie viele Briefe ich seit meiner Wahl erhalte», sagt er. Um das Ausmass zu dokumentieren, startete Fricker ein kleines Experiment. Eine «Transparenz-Woche», wie er es nennt.
Während einer Woche führte er Buch über alle Schreiben von Lobbygruppen und veröffentlichte diese auf Facebook. Das Resultat: Als Nationalrat erhält er täglich im Schnitt drei Einladungen und etwa fünf Lobbyschreiben – und das allein in der sitzungsfreien Zeit. Je näher die Session rückt, desto voller wird sein Briefkasten. Hinzu kommen Dutzende E-Mails.
Frickers Sammlung beginnt mit einem Aufruf der «Selbsthilfegruppe für Elektrosmog-Betroffene». Im Verlauf der Woche erhält er Informationen über die Eizellenspende, Erläuterungen zu laufenden Geschäften und zahllose Aufrufe zur Energiewende. Mal bittet die Vollgeld-Initiative um Unterstützung, dann wird Fricker zum Kampf gegen die Christenverfolgung aufgefordert. In letzter Zeit komme das meiste Material aus dem Gesundheitswesen und der Pharmabranche, sagt Fricker. Je nach politischer Aktualität melden sich andere Verbände und Institutionen.
Würde Fricker alle Anlässe besuchen, zu denen er eingeladen wird, müsste er kaum mehr um die Nahrungsaufnahme besorgt sein. Die Bankiervereinigung etwa bittet zum «ungezwungenen Austausch mit Top-Führungskräften der Bankenbranche» im Hotel Bellevue Palace. Hierhin laden weitere Verbände. Sie haben sich die feinste Adresse in Bern ausgesucht, den wichtigsten Umschlagplatz für Informationen aller Art.
Das Herzstück erfolgreicher Lobbyarbeit ist das persönliche Gespräch. Im geselligen Rahmen verwässern die Grenzen zwischen Politik und Interessenarbeit. Beim Essen wird das persönliche Netzwerk aufgefrischt, es geht um die Bildung von Vertrauen und Nähe.
Was im Briefkasten oder im elektronischen Postfach eines Politikers landet, ist schnell gelöscht oder im Papierkorb versenkt. Um sich hervorzuheben, setzen Lobbygruppen gerne auf kleine Geschenke. Diese häufen sich offenbar gerade zu Weihnachten.
Jonas Fricker erinnert sich etwa, wie er die neuste Kreation einer Bierbrauerei nach Hause geschickt bekam. Meist gehe es dabei um Sympathiepunkte und nicht um Beeinflussung, sagt der Neo-Nationalrat. «Dessen sind sich die Absender ebenso bewusst.»
Parlamentarier können sich vor ungewollter Post kaum retten. Diese Erfahrung macht auch der Solothurner SVP-Nationalrat Christian Imark, der ebenfalls neu im Rat sitzt. «Bis weit ins neue Jahr hinein erhielt ich Gratulationsbriefe zu meiner Wahl», sagt Imark. Was ihm besonders auffällt, sind die vielen Einladungen. «An einem Sessionsabend könnte ich zehn Anlässe besuchen.» Nach einigen Wochen hat er aufgehört, auf jedes Schreiben zu reagieren.
Nicht anders verfährt der Bündner BDP-Nationalrat Duri Campell, ein weiterer Ratsnovize. «Die vielen Schreiben sind gewöhnungsbedürftig.» Er konzentriert sich auf diejenigen Themen, die in seinen Kommissionen besprochen werden.
Schon länger in Bundesbern ist der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth. Für die Neugewählten habe er nur einen Tipp, sagt er: «Möglichst viel möglichst schnell möglichst ungelesen wegschmeissen.» Ein Kilogramm Post und gegen 100 E-Mails von Lobbygruppen bekommt Wermuth täglich. Er freue sich über jeden, der ihn über Aktualitäten informiere. Doch ohne «konsequente Triage» lasse sich die Post nicht bewältigen.
Ähnlich sieht das Jonas Fricker. Der grüne Nationalrat durchsucht seine Post nur noch nach Themen, die seine politische Arbeit betreffen. «Letztlich gehört es zu den Aufgaben eines Parlamentariers, sich mit den Argumenten verschiedener Interessengruppen zu befassen.»
Und mit einer Prise Ironie sieht er in der Briefflut noch etwas Positives: Dank dieser könne er sich im Querlesen und Priorisieren üben.
(trs)