Überrascht, überfordert, überfahren. So lässt sich die Leistung der Schweizer gegen Tschechien auf drei Worte reduzieren.
Vom Tempo überrascht, dann überfordert (was sich in der Strafenstatistik niederschlug) und schliesslich überfahren. Bereits nach 26 Sekunden kassiert Chris Baltisberger eine Strafe, bereits im ersten Powerplay fällt das 0:1. Auch der zweite und dritte Gegentreffer kassieren die Schweizer in Unterzahl. Am Ende stehen acht Zweiminutenausschlüsse gegen die Schweiz und nur vier gegen Tschechien. Wer in den meisten Situationen hinterherfährt, begeht mehr Fouls.
Nationaltrainer Patrick Fischer monierte den verschlafenen Start, das ungenügende Boxplay und ein Mangel an Disziplin. Alles verursacht durch das hohe Tempo. Der Nationaltrainer sagt: «Deshalb sind diese Spiele für uns so wichtig und so wertvoll. Jedem wird wieder klar, was es auf diesem Niveau braucht.»
Eine Vertiefung dieser Ausführungen können wir uns sparen. So ist es jedes Jahr im Herbst. Die Nationalmannschaft durchläuft einen Angewöhnungsprozess ans höhere internationale Niveau mit schnellerem, intensiverem Spiel und strengerer Regelauslegung der Schiedsrichter.
Gegen Titanen wie Kanada, Tschechien oder Russland verläuft dieser Prozess schmerzhafter als in Operetten-Testspielen gegen die Slowakei und Deutschland. In diesem Jahr dürfen wir ausnahmsweise beim Karjala Cup in Helsinki testen und müssen nicht zum Deutschland Cup reisen.
Erst in der intensiven Phase der WM-Vorbereitung gelingt es dann im Frühjahr internationales Niveau zu erreichen und den Grossen auf Augenhöhe zu begegnen.
Was wir am Mittwoch und Biel gegen Kanada und nun am Freitag in Helsinki gegen Tschechien gesehen haben, dieser phasenweise Rückfall auf das Niveau von «Pausenplatz-Hockey» gegen Tschechien, ist also kein Grund zur Panik oder gar Polemik. Es ist ganz einfach das, was wir seit Jahren von unserer Nationalmannschaft sehen, wenn die Blätter von den Bäumen fallen.
Und doch gibt es einen Hinweis auf ein Problem, das uns in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Die Torhüter. Bill Clinton gewann seinen ersten Wahlkampf um die US-Präsidentschaft mit dem Slogan «It’s the economy, stupid!» («Alles dreht sich um die Wirtschaft, Idiot!»). Bei der Beurteilung unserer Nationalmannschaft können wir allen Kritikern, Zweiflern und Polemikern sagen: «It’s the goalie, stupid!» («Alles dreht sich um den Torhüter, Idiot!»)
Auf internationalem Niveau können wir Spiele nur mit aussergewöhnlichen Torhüterleistungen gewinnen. Auch dann, wenn die Feldspieler in besserer Verfassung sind als jetzt im Herbst. Die Finnen, Tschechen, Russen, Schweden, Amerikaner und Kanadier sind offensiv stark genug, um auch mal mit einem durchschnittlichen Torhüter eine Partie zu gewinnen. Wir sind es nicht. Jonas Hiller (90,32 Prozent Fangquote gegen Kanada) und Gilles Senn (88,46 Prozent gegen Tschechien) waren gute, aber keine grossen Torhüter. Ein grosser Torhüter hätte beide Partien für die Schweiz gewinnen können. Zweimal ein 2:1 wäre möglich gewesen.
Statistisch grosse Torhüter stoppen mindestens 93 Prozent der Schüsse. Jahrelang hatten wir gleich mehrere grosse Torhüter. Reto Pavoni, David Aebischer, Martin Gerber, Jonas Hiller, Reto Berra und Leonardo Genoni. Sie alle haben internationale Heldentaten vollbracht.
Inzwischen ist nur noch Leonardo Genoni ein grosser Torhüter – und er ist schon 30. Reto Pavoni, David Aebischer und Martin Gerber sind nicht mehr aktiv. WM-Silberheld Reto Berra hat das WM-Niveau von 2013 nie mehr erreicht, Tobias Stephan und Robert Mayer haben nicht das Charisma zu einer Nummer eins bei einem Titelturnier. Jonas Hiller ist kein grosser internationaler Goalie mehr und Gilles Senn ist noch keiner. Ob er einer wird, ist fraglich.
Das Gesprächsthema bei den NHL-Scouts hier in Helsinki ist ein helvetischer Torhüter. Die meisten waren am Mittwoch nach Häämenlinna gefahren, 100 Kilometer nördlich von Helsinki. Dort hat unsere U18-Nationalmannschaft sensationell die Amerikaner 3:2 nach Penaltys besiegt. Bei einem Schussverhältnis von 17:36 stoppte Akira Schmid 94,40 Prozent der Pucks, die auf ihn prasselten und hexte den Sieg gegen den Weltmeister schliesslich im Penaltyschiessen heraus.
Zum ersten Mal waren die NHL-Talentsucher an der letzten U18-WM in Poprad (Slowakei) im Viertelfinal gegen die Amerikaner auf Langnaus grösstes Goalietalent aller Zeiten aufmerksam geworden. Bei der 2:4-Niederlage hielt er 43 von 47 Schüssen.
Der 17-jährige Langnauer hat alles, was es für die grosse Karriere braucht: Eine ruhige Art, eine Grösse von 192 Zentimeter und eine erstaunliche Stilsicherheit – nun braucht er auch noch das Glück, das jeder für eine grosse Karriere benötigt. Er ist sozusagen unsere Goalie-Antwort auf Nico Hischier. Im Erwachsenenhockey hat er erst einen einzigen Teileinsatz im Schweizer Cup gegen die Aargovia Stars hinter sich. Zahlreiche NHL-Scouts haben nun angekündigt, in den nächsten Wochen bei den Partien der Langnauer Elitejunioren das Wunderkund zu beobachten.
In fünf bis sieben Jahren kann Akira Schmid unser Nationaltorhüter und der Nachfolger von Leonardo Genoni sein. Unser nächster Goalie, der für uns Spiele auf internationalem Niveau gewinnen kann.
Nationalmannschafts-Direktor Raeto Raffainer wiederspricht solchen Prognosen nicht, warnt aber vor zu grossen Erwartungen und gibt zu bedenken, wie viele Faktoren die Entwicklung eines jungen Spielers beeinflussen können. Und er hat Hoffnungen, dass nicht erst Akira Schmid der Nachfolger von Leonardo Genoni wird. «Marcel Kull bringt auch Gilles Senn und Joren van Pottelberghe auf internationales Niveau.» Marcel Kull ist der beste Torhütertrainer der Schweiz. Er hat beim HCD u.a. bereits Jonas Hiller, Reto Berra und Leonardo Genoni ausgebildet. Nun arbeitet er mit Gilles Senn (21) und Joren van Pottelberghe (20). Raeto Raffainer sagt: «Für das, was er für unser Hockey leistet, müssten wir ihm eigentlich ein Denkmal errichten.»
Wäre es da nicht wünschenswert, dass sich Marcel Kull auch um die Ausbildung von Akira Schmid kümmert? Dass unser Torhüter-Jahrzehnttalent von Langnau nach Davos zügelt? Raeto Raffainer sagt: «Wenn Sie das schreiben, dann dürfen Sie sich in Langnau nie mehr blicken lassen …»