>>> Wir tickern heute die beiden Champions-League-Partien ab 20.45 live.
Es sind nur wenige Schritte, und doch wähne ich mich in einer anderen Welt. Ich schlendere dem Ashton Canal entlang aus dem Stadtzentrum Richtung Nordosten, passiere frisch sanierte Backstein-Häuser, Neubauten. Alles herausgeputzt.
Je weiter das Zentrum zurückliegt, desto weniger Menschen sind zu sehen. Baustellen, Industrieruinen, Brachen, eingeschlagene Fenster, Graffiti an den Wänden, Abfall im Kanal. Spuren der industriellen Vergangenheit, Zeugen des Zerfalls. Irgendwie beklemmend.
Langsam frage ich mich, ob ich nicht etwas falsch verstanden habe. Aber nein, das ist unmöglich. Safrana, die Vermieterin der Wohnung, in der ich für die Tage in Manchester untergekommen bin, meinte: «Wenn du zum Stadion willst, folge einfach dem Kanal. Das ist kein Problem.» Und so gehe ich gegen den Strom. Der Kanal biegt sich gegen Osten. Eine grosse Brücke, eine dunkle Unterführung. Hätte ich doch besser das Tram genommen?
Kaum ist die Brücke passiert, baut sich vor mir der Etihad Campus auf. Auf einer Fläche von über 300'000 Quadratmetern hat sich hier Manchester City ausgebreitet.
Vor allem seit der Übernahme des Klubs durch Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan. 2008 kaufte er ihn für 210 Millionen Pfund dem thailändischen Premierminister Thaksin Shinawatra ab. Seither hat Mansour ein Vielfaches in den Klub investiert. Rund anderthalb Milliarden flossen allein in neue Spieler. Aber es blieb nicht dabei, die Investitionen gingen über den Fussball hinaus.
Kurz nach der Übernahme wurde Gary James von einem Adjutanten des Scheichs kontaktiert. «Er wollte von mir alles über den Verein wissen, seine Geschichte, das Viertel, wo das Stadion steht, wie man helfen könne, dieses zu entwickeln», erinnert sich der Dozent für Sportgeschichte an der Metropolitan University in Manchester.
Das habe er zuvor nie erlebt. Und steht in Kontrast zum Gebaren des Glazer-Clans, den amerikanischen Besitzern von Manchester United. Denen geht es in erster Linie ums eigene Portemonnaie.
Der Etihad Campus. Neben dem Stadion gehören auch die Academy des Vereins sowie eine fast 70000 Quadratmeter grosse Baustelle dazu. Dort sollen sich dereinst Geschäfte ansiedeln.
Früher war das hier ein Industrie- und Arbeiterquartier im Stadtteil Bradford, das spürt man bis heute. In einem Park zwischen Backstein-Reihenhäusern treffe ich auf Arthur Smith. Der Rentner wurde hier geboren, zog Anfang 20 in die Nähe von Blackpool, rund 60 Kilometer nordwestlich von Manchester an der Küste gelegen, und kam Mitte 30 zurück. Mit Fussball hat er nichts am Hut, er ist Speedway-Fan, liebt Motorräder, nicht schnelle Passkombinationen.
Wie viele in der Gegend gehörte Arthur der Arbeiterklasse an. Was hält er davon, dass da ein Scheich kommt und plötzlich Milliarden für den Traum vom Triumph in der Champions League raushaut? «Was soll daran schlecht sein?», fragt er zurück.
Dann pfeift er schrill. Barney, sein kleiner weisser West Highland Terrier, wird grössenwahnsinnig, bellt einen Husky an. «Schauen Sie, es ist auch viel Gutes passiert, seit City wieder aufblüht. Da, wo heute die Academy steht, war früher ein Chemieunternehmen. Die mussten den verseuchten Boden metertief abtragen», erzählt er.
Gebaut von lokalen Arbeitskräften lokaler Unternehmen wurde das wohl modernste Trainingszentrum der Welt im Dezember 2014 eröffnet. Nach Vorbild von Milanello, dem Trainingskomplex der AC Milan. 16 Fussballfelder stehen Citys Nachwuchs und der ersten Mannschaft zur Verfügung, eines davon überdacht und mit Kunstrasen. Man kann die Temperaturen im Innenraum auf minus 20 Grad runterkühlen oder auf fast 40 Grad aufheizen, um Extrembedingungen zu simulieren.
Unweit davon die Räume der Physiotherapeuten, ein Kältebad zur Regeneration, ein Becken, in dem verletzte Spieler erste Laufübungen machen können – mit Unterwasserkamera zur Analyse der Bewegungen – und dann der komplett ummauerte Trainingsplatz, auf dem die erste Mannschaft die Abschlusstrainings bestreitet. Dazu gehört ein Drohnenabwehrsystem, um sicherzugehen, dass niemand mitschaut, der das nicht soll.
Die Academy ist durch eine weisse Fussgängerbrücke mit dem Stadiongelände verbunden. Das hat symbolischen Charakter. Dutzende von Talenten schwitzen auf dem Trainingsgelände täglich ihrem Traum entgegen. Bis zu 400 Kinder und Jugendliche schieben sich hier im Verlaufe eines Tages die Bälle zu. Sie gehören in ihren jeweiligen Jahrgängen mit Sicherheit zu den Besten des Landes, viele zu den Besten der Welt. Denn Manchester City hat auch im Scouting und in der Nachwuchsarbeit massiv investiert.
Spätestens seit der Verpflichtung von Txiki Begiristain als Sportdirektor wird hier nach spanischem Vorbild gearbeitet. Ein Grossteil des Personals stammt wie der ehemalige Barça-Angreifer von der Iberischen Halbinsel. Selbst in der medizinischen Abteilung würden die meisten spanisch sprechen, erzählt Lorenzo Gonzalez.
Der 17-jährige Schweizer mit spanischen Wurzeln wechselte im Sommer 2016 in den Nachwuchs von Manchester City. Die Academy war mit ein Grund, dass er sich für City entschied. Obwohl er die Wahl hatte zwischen mehreren Top-Adressen. Vier bis fünf Mal darf er mit Sergio Agüero & Co. trainieren. Auf sein Debüt mit der ersten Mannschaft wartet er noch.
Doch die Hoffnung lebt. Viel fehlt nicht. Er ist ganz nah dran, davon ist er überzeugt. Aber den letzten Schritt, den Weg über die weisse Brücke, hat er noch nicht gemacht. Noch spielt er im Academy-Stadion. 7000 Zuschauer hätten hier Platz.
Viele Schweizer Klubs würden eine solche Spielstätte mit Handkuss nehmen. Alles auf dem neusten Stand. Doch meist kommen nur ein paar hundert Zuschauer zu den Spielen der U23 oder der Frauenmannschaft.
Anders sieht es aus, wenn die Stars nebenan auflaufen. Dann kommen sie in Scharen. Wobei heute gegen Basel zahlreiche Plätze leer bleiben dürften. Noch immer kommen viele City-Fans aus der Arbeiterklasse. Sie leisten sich den Luxus, ins Stadion zu gehen, wenn grosse Spiele anstehen. Oder doch wenigstens Premier League. Aber Basel? Nach einem 4:0-Triumph auswärts?
Ihre Hymne werden sie wohl auch heute singen. Sie ist ein Relikt längst vergangener Tage:
Unter den Sängern wird auch Andrew Taylor sein. 1971 sah er City zum ersten Mal. Da war er sechs Jahre alt. Heute kommt er mit seinem Sohn zum Spiel. Er auf der Haupttribüne, der Junior in der Kurve. Andrew: «Es sind wirklich Unsummen, die Mansour investiert hat. Aber warum sollten wir uns wehren? Wir wollen guten Fussball sehen.» Den kriegen sie – und spotten über das Gekicke von Stadtrivale United. «Selbst meine 83-jährige Mutter schaltet den TV aus, wenn die spielen», lästert Andrew.
44 lange Jahre mussten die Anhänger der Skyblues warten, ehe sie 2012 wieder Meister wurden. Ein erster Höhepunkt der himmelblauen Auferstehung. Es folgten weitere Titel. Doch auf den ganz grossen Triumph, den Sieg in der Königsklasse, warten sie noch immer. Nur einmal schafften sie es über den Achtelfinal hinaus. Das war 2016 unter Guardiolas Vorgänger Manuel Pellegrini.
Diese Saison gehören sie zu den ganz grossen Favoriten. City bewegt sich in Sphären, die vor der Übernahme durch den Scheich aus Abu Dhabi niemand zu erhoffen gewagt hätte. Doch wie die Gegend um das Stadion hat sich auch der Klub wundersam gewandelt. Alimentiert von Öl-Milliarden. Aber wen kümmert das schon, wenn man neue Welten erobert?