So wie der Flügelschlag eines Kolibris einen verheerenden Wirbelsturm auszulösen vermag, so kann eine einzelne Szene eine ganze Playoff-Serie drehen. War das Tor von Lino Martschini zum 1:1 in Bern, das Zug die Verlängerung und den Sieg bescherte, so ein Ereignis, das den Final kippt?
Vielleicht. Vielleicht nicht. Die Vergangenheit zeigt uns, dass es immer wieder Szenen und Episoden gegeben hat, die am Ende die Meisterschaft entschieden haben.
Unvergessen und einmalig bleibt eine Begebenheit aus dem Frühjahr 2003.
Der HC Davos ist Titelverteidiger und führt im Final gegen Lugano 2:0. Alles klar. HCD-Manager Gérard Scheidegger, der wohl charmanteste Verlierer unseres Hockeys (zurzeit hat er Arbeit beim HC La Chaux-de-Fonds), lässt sich von pfiffigen Journalisten dazu überreden, sich mit dem von ihm soeben entworfenen Logo «HC Davos – Meister 2003» abbilden zu lassen. Monsieur Scheidegger fühlt sich geschmeichelt: In einer Story schildern die Chronisten, welch tüchtiger Manager er doch sein, dass er vorausschauend plane und die T-Shirts und Baseballkappen für die HCD-Meisterfeier bereits entworfen und in Auftrag gegeben habe.
Luganos Trainer Larry Huras lässt das Bild Scheideggers mit dem Logo «HC Davos – Meister 2003» an die Kabinentüre heften. Lugano fegt im heiligen Zorn den HCD viermal hintereinander vom Eis (5:3, 4:2, 3:0 und 4:0) und wird Meister 2003.
Manchmal entscheiden Sekundenbruchteile eine ganze Meisterschaft – und über Karrieren. Im Frühjahr 2006 führt Ambri (7.) im Viertelfinal gegen Lugano (2.) 3:0. In der vierten Partie liegt Ambri kurz vor Schluss 4:3 in Front. Lugano scheint besiegt, Aussenseiter Ambri steht vor einem grandiosen Triumph.
Trainer Harold Kreis (er ist nach dem zweiten Spiel im Viertelfinal für den gefeuerten Larry Huras engagiert worden) nimmt den Torhüter vom Eis. Ambris Topskorer Hnat Domenichelli, zweitbester Punktesammler der Liga, angelt sich den Puck und hat das leere Tor vor sich. Er trifft den Pfosten. Lugano schafft den Ausgleich und die Verlängerung, gewinnt und wird schliesslich Meister.
Hätte Hnat Domenichelli ins leere (!) Tor getroffen, wäre Harold Kreis mit Lugano nicht Meister geworden, seine Trainerkarriere wäre zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hatte, und es gäbe jetzt auch keinen Zug-Trainer Harold Kreis. Hnat Domenichelli lebt heute noch im Tessin und arbeitet erfolgreich als Spieleragent. Die Szene verfolgt ihn immer noch.
Um eine weitere ähnliche Szene zu finden, müssen wir den Film der Erinnerung gar nicht so weit zurückspulen. Im ersten Viertelfinalspiel 2017 in Zug trifft Servettes Tim Traber in der Verlängerung nur die Latte des leeren Tores. Zug gewinnt das Spiel doch noch.
Eine Auftaktniederlage hätte wohl die Dämonen des Zweifels heraufbeschworen. Wahrscheinlich wären die Zuger zum dritten Mal in Serie im Viertelfinal gescheitert. Der amerikanische Sportpsychologe Dr. Saul Miller arbeitet diese Saison exklusiv für Zug – und er kennt Tim Traber von Kindsbeinen an. Ob er ihn wohl verhext hat?
Manchmal ändert auch ein Ausraster alles. Davos führt 2014 im Viertelfinal gegen Kloten 2:0. Im dritten Spiel rastet Klotens Torhüter Martin Gerber aus und schlägt den Stockhandschuh ins Gesicht von HCD-Stürmer Gregory Sciaroni, kassiert einen Restausschluss und wird für ein Spiel gesperrt.
Sein Ersatz Jonas Müller hext Kloten in diesem dritten (2:1) und im vierten Spiel in Davos (3:0) sensationell zum Sieg – die Serie kippte, Kloten kommt schliesslich bis ins Final und unterliegt dort, längst wieder mit Martin Gerber, den ZSC Lions 0:4.
Dass der Ausfall des Torhüters das eigene Team beflügelt, ist ungewöhnlich. Im Frühjahr 2007 führen die ZSC Lions gegen Davos im Viertelfinal 3:1. Aber sie verlieren im vierten Spiel beim 5:2-Sieg ihren Torhüter Ari Sulander durch eine Verletzung. Reto Berra, der für die kommende Saison bereits beim HCD unterschrieben hat, muss nun ins Tor. Der 20-Jährige war während der Qualifikation nur ein einziges Mal zum Einsatz gekommen – weshalb er sich entschieden hat, die Zürcher zu verlassen. Nun tritt er zum «letzten Hurra» für die ZSC Lions an. Davos gewinnt dreimal hintereinander (4:2, 3:1, 3:0) und die 7. Partie wird durch zwei Fehler Reto Berras entschieden. Der HCD holt schliesslich auch den Titel.
Wenn ein Knoten platzt, ist der Himmel die Limite: Der SC Bern schaffte im Frühjahr 2016 punktgleich mit Lausanne gerade noch Platz 8 und muss in der ersten Runde gegen die ZSC Lions antreten, die als Qualifikationssieger 31 Punkte mehr geholt haben. In der ersten Partie im Hallenstadion kommt es zum Penaltyschiessen. Die Berner hatten die letzten 18 Penaltys (während der Qualifikation) verschossen – und nun triumphieren sie.
Mit Lars Leuenberger an der Bande eliminiert der SCB die ZSC Lions 4:0. Aber nicht jedes aussergewöhnliche Ereignis ist die Wende. Im Halbfinal dieser Playoffs 2016 verliert der SC Bern in Davos die dritte Partie krachend 1:7. Davos verkürzt in der Serie auf 2:1 und nun gehen alle davon aus, dass das «Momentum» beim HCD liegt. Aber der SCB gewinnt dieses Halbfinal mit 4:1, bodigt im Final auch Lugano (4:1) und gewinnt die Meisterschaft 2016. Aber der Titel hat Lars Leuenberger noch kein Glück gebracht. Der Meistertrainer sucht immer noch einen Job.