In fernen, goldenen Zeiten gehörte die Schweiz zu den offensiv spektakulärsten Teams der Welt. Die HCD-Angriffsreihe mit Bibi Torriani, Hans und Pic Cattini galt in den 1930er Jahren als eine der besten ausserhalb der NHL.
Zum letzten Mal brausten die Schweizer in Paris bei der WM 1951 über ihre Gegner hinweg. Angeführt vom Sturm mit Hans-Martin Trepp, Ueli und Gebi Poltera vom EHC Arosa holte die Schweiz Bronze – die letzte echte Medaille bis zum Silber 2013. 1953 holten wir zwar noch einmal Bronze – aber damals beendeten bloss drei Teams die WM. Die USA und Kanada fehlten, nur vier Mannschaften traten an und wegen des Todes des Staatspräsidenten musste die CSSR vorzeitig abreisen.
Seit den frühen 1950er Jahren sind für die Schweizer Taktik, Disziplin, defensive Stabilität, schlaues Coaching und die Torhüterleistung wichtiger als die offensive Durchschlagskraft. Die WM 1951 war sozusagen der Schwanengesang der internationalen helvetischen Offensive. Der Ausdruck «Schwanengesang» steht für das letzte grosse Werk und geht auf einen alten griechischen Mythos zurück, der besagt, dass Schwäne vor ihrem Tod noch einmal mit wunderschöner Stimme ein letztes Lied anstimmen. Der Ausdruck passt. Nach 1951 haben wir 67 Jahre lang bei Titelturnieren keine offensiven Lieder mehr gesungen.
Dafür hatten wir seither zu fast allen Zeiten Weltklasse-Goalies. Aber eben: seit den 1950er Jahren keine Weltklasse-Stürmer mehr. Was sich ja auch daran zeigt, dass zuerst unsere Torhüter (David Aebischer, Martin Gerber), dann die Verteidiger (Mark Streit) und erst zuletzt die Stürmer die NHL erobert haben. Wobei es anzumerken gilt: Auch in den letzten goldenen offensiven Jahren hatten wir mit Hans Bänninger und Jean Ayer zwei Weltklasse-Torhüter und mit Emil Handschin einen Kult-Verteidiger.
Offensivspieler, die auf internationalem Niveau (oder in der NHL) die Differenz machen können, haben wir erst in den letzten Jahren mit Martin Plüss (41) und Marcel Jenni (44) – sie setzten sich in Schweden durch – und vor allem nun mit Nino Niederreiter (25), Sven Andrighetto (25), Timo Meier (21), Kevin Fiala (21) und Nico Hischier (19) wieder hervorgebracht. Sie sind die wahren Erben von Bibi Torriani.
Nino Niederreiter hat hier in Kopenhagen bereits zwei Partien bestritten, Sven Andrighetto kehrt nach der Sperre, die er gegen die Slowakei abgesessen hat, ins Team zurück und im Laufe des Dienstages trifft Timo Meier in der dänischen Hauptstadt ein: Zum ersten Mal haben wir an einer WM drei Stürmer zur Verfügung, die sich in der NHL durchgesetzt haben.
Erstmals seit den frühen 1950er Jahren sind wir wieder dazu in der Lage, die Titanen des Welteishockeys auch offensiv herausfordern. Und gleich mit zwei Linien. Offensive Aussichten, die seit 67 Jahren kein Nationaltrainer mehr hatte.
Im frühlingshaften Kopenhagen sind Spekulationen über Linienzusammenstellungen möglich, die an Notenblätter für offensive Sinfonien mahnen.
Der Möglichkeiten sind viele. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass Luganos Grégory Hofmann, soeben helvetischer Playoff-Torschützenkönig geworden, nach der Ankunft von Timo Meier in die dritte oder vierte Linie zurückrutscht. Der Energiestürmer Tristan Scherwey gehört eigentlich weiterhin in die ersten beiden Formationen.
Timo Meier hat noch kein Länderspiel bestritten. Er kann frühestens am Mittwoch gegen Tschechien debütieren. In dieser Partie wird er eigentlich noch nicht benötigt. Er ist der Stürmer, den wir brauchen, um über das Viertelfinale hinauszukommen.
Im Rummel um Nico Hischier ist der Appenzeller (Herisau) im Laufe dieser Saison etwas vergessen gegangen. Dabei war er diese Saison mit 21 Toren der treffsicherste Schweizer Stürmer in der NHL. Er ist zwar «nur» 184 cm gross, aber 96 Kilo schwer. Unheimlich kräftig, robust und trotzdem flink und beweglich. Er kann auf der Fläche eines Badetuches einen Gegner «austanzen», sich auch im «Infight» in den Ecken durchsetzen, ist kaum aus dem Gleichgewicht zu checken und schiesst schnell und präzis aus dem Handgelenk.
Aber auch ein offensives «Spektakel-Team» braucht den Rückhalt eines grossen Torhüters. Reto Berra ist so ruhig, stilsicher und charismatisch wie seit der Silber-WM von 2013 nie mehr. Es wäre keine Überraschung, wenn er und nicht Leonardo Genoni bei dieser WM unsere Nummer 1 wird.
Auf dem Papier haben wir in Kopenhagen die besten Einzelspieler seit 1951. Aber Namen sind nur auf dem Dress aufgenähte Buchstaben. Nun obliegt es Nationaltrainer Patrick Fischer, aus einer guten Mannschaft (fürs Viertelfinale) eine grosse Mannschaft (fürs Halbfinale) zu formen. Das ist gar nicht so einfach. Die Nordamerikaner sagen, dass grosse Namen für grosse Taten grosse Coaches brauchen.
Nach wie vor sind zwei Plätze im WM-Team frei. Es ist möglich, dass auch noch Roman Josi und Kevin Fiala nachrücken. Dann wäre der Hockey-Himmel die Limite bei dieser WM.
Oder sind diese Zeilen Ausdruck eines offensiven Hochmutes, der vor dem defensiven Fall kommt?