Klotens Trainer Kevin Schläpfer (48) dürfte eigentlich gar nicht mehr im Amt sein. Das stolze Schiff des EHC Kloten, das seit 56 Jahren durch die Wellen der höchsten Liga dampft, steht vor dem Untergang. Der Maschinenraum steht bereits unter Wasser.
Wollen die Zürcher die Liga-Qualifikation vermeiden, dann müssen sie jetzt dreimal hintereinander gegen Ambri gewinnen. Seit Kevin Schläpfer Cheftrainer geworden ist, hat er nie dreimal hintereinander gewonnen und zehn von elf Partien gegen Ambri verloren.
Nach der dritten Niederlage gegen Ambri am Ostermontag schien deshalb klar: Nun ist es vorbei. Wenn Kloten die Wende doch noch herbeiführen will, dann muss der Trainer ausgewechselt werden.
Doch Kevin Schläpfer bleibt im Amt. Aber wenn er zu Hause in seinem schönen Eigenheim am Sonnenhang in allerbester Lage in Sissach im Beisein seiner Freundin über die Situation nachdenkt, dann müsste er eigentlich trotzdem depressiv werden. Nicht nur wegen der Krise in Kloten.
Die Dramatik seiner Karriere hat Hollywood-Potenzial. Vor zweieinhalb Jahren hat er den Traumjob als Nationaltrainer nicht angenommen, um in Biel zu bleiben. So ist Patrick Fischer Nationaltrainer geworden. Im Vergleich zu Kevin Schläpfer und dessen Erfahrung und Erfolgsbilanz schon nicht ganz, aber fast eine «Nullnummer».
In Biel ist Kevin Schläpfer kurz darauf gefeuert worden. Trotz Status als «Hockey-Gott». Trotz aller Verdienste. Und ausgerechnet jetzt, da er um seine berufliche Existenz kämpft, feiert dieses Biel im Halbfinale gegen Lugano die tollsten Tage seit dem Wiederaufstieg von 2008. «Sein» Biel, das er über zehn Jahre lang an vorderster Front als Sportchef und Trainer aufgebaut hat.
Doch Kevin Schläpfer ist weder depressiv noch mutlos. Mag sein, dass er nicht mehr so charismatisch wirkt wie in seinen besten Tagen am Fusse der blauen Jura-Berge. Aber er strahlt jetzt etwas Unverwüstliches, Trotziges aus. Wie ein Kater, der nach einem Hagelwetter zerzaust an der Haustüre kratzt und selbstbewusst Einlass begehrt.
Es hat in der modernen Geschichte unseres Hockeys mit ziemlicher Sicherheit noch keinen Trainer gegeben – und in der Privatwirtschaft wohl keinen Manager und in der Politik keinen Würdenträger – der in einer so heiklen, beinahe aussichtslosen Lage so zuversichtlich und locker geblieben ist.
Normalerweise sind Trainer (und Führungskräfte und Politiker) in der tiefen Krise für Chronistinnen und Chronisten nicht mehr oder nur im Rahmen von offiziellen Medienkonferenzen ansprechbar.
Bei Kevin Schläpfer gibt es kein «normalerweise». Er war im Erfolg anders. Und er ist es auch im Misserfolg. Er ist offen und zugänglich wie eh und je. «Es hilft mir, dass ich so kritische Situationen schon erlebt habe», sagt er. «Wir lagen in Biel in einer Liga-Qualifikation 0:2 zurück und haben uns gerettet.»
Wenn er sagt, die Rettung in Kloten sei möglich, so ist das nicht einfach dahergeredet. Er hat als Nottrainer eine solche Rettung in Biel zweimal an vorderster Trainerfront organisiert. Aber Kloten ist nicht Biel. «Das stimmt» sagt Kevin Schläpfer. «Wir sind mit Biel aufgestiegen und allen in unserer Organisation war in den ersten Jahren stets bewusst, dass wir um den Ligaerhalt spielen müssen.» In Kloten sei es anders. Hier fehle dieses Bewusstsein.
Und tatsächlich ist Kloten im Laufe seiner ruhmreichen Geschichte seit 1934 nie in so akute Abstiegsgefahr geraten wie im Frühjahr 2018.
Und was macht also den Unterschied zwischen Kloten und Biel? «In Biel war es auch in den schwierigsten Zeiten ruhig.» Und in Kloten? «Also hier ist es schon unruhiger.» Sagt er, hält inne, denkt kurz nach und stellt erleichtert fest: «Aber wenn Sie so fragen, muss ich sagen: jetzt ist es auch bei uns ruhig. Eigentlich erstaunlich…» Kevin Schläpfer wertet das als positives Signal. Als Zeichen, dass vielleicht nun doch alle begriffen haben, wie schwierig die Situation ist.
Diese Ruhe ist in der Tat bemerkenswert. Nach der dritten Niederlage gegen Ambri (2:3 n.V) am Ostermontag schien klar: nun passiert etwas. Die gängige Lehrmeinung: Wenn Kloten die Wende herbeiführen will, dann muss der Trainer jetzt entlassen werden. Mit Felix Hollenstein und André Rötheli stehen zwei Legenden bereits als Juniorentrainer beim Klub in Lohn und Brot. Beide helfen Kevin Schläpfer bereits als Spielbeobachter und Video-Zuschneider. Sie sind mit der Situation vertraut und können übernehmen.
Niemand ist für das Amt eines Nottrainers (und Schläpfer-Nachfolgers) besser geeignet und qualifiziert als Felix Hollenstein (52) – Klotens charismatischste, grösste Persönlichkeit. Captain bei vier Meisterteams. Später jahrelang Trainer und Assistenztrainer und beim letzten Finale, während der letzten Tage des Ruhmes im Frühjahr 2014 als Cheftrainer an der Bande.
Doch Felix Hollenstein wird nicht Trainer. Kevin Schläpfer bleibt und Hollenstein sagt, er wisse wohl, dass man ihm nachsage, er destabilisiere den Trainer. Solche Gerüchte empfindet er als Angriff auf seine Integrität.
Den Sinn für Humor hat er trotz allem auch in diesen schwierigen Zeiten nicht verloren. Er sagt: «Meine Motorsäge ist scharf geschliffen und ich werde sie in den nächsten Tagen einsetzen. Aber nicht so wie Sie denken um Kevin Schläpfer abzusägen. Ich habe ein Stück Wald und wegen Sturmschäden habe ich dort noch viel Arbeit. Eine gute Abwechslung zum Hockeyalltag.»
Aber jetzt Hand aufs Herz: im Falle eines Falles – sagen wir bei einem Sturz in die Liga-Qualifikation – würde er schon als Trainer einspringen. Oder? «Nein, das werde ich nicht tun. Unter keinen Umständen. Aber ich helfen, wo ich nur kann. Ich habe mich auch nach dem letzten Spiel gegen Ambri mit Kevin unterhalten und wir haben darüber gesprochen, was die Situation verbessern könnte.»
Und dann bringt Felix Hollenstein eine interessante Variante ins Spiel. «Wenn mich Kevin Schläpfer bitten würde, ihn an der Bande zu unterstützen, dann würde ich es tun. Ich weiss zwar nicht, ob zwei Alphatiere wie Kevin und ich funktionieren. Aber wenn er als Cheftrainer meine Hilfe wünscht, werde ich nicht nein sagen.»
Also keine Kritik an Kevin Schläpfer. Vielmehr die Bereitschaft, ihm zu helfen. Klotens «Hockeygott» verneigt sich vor Kevin Schläpfer und wäre bereit, vom Thron herabzusteigen und sich in dessen Dienst zu stellen. Wahre Sportromantik und Männer-Kameradschaft.
Die Helden Kevin und Felix als Schicksalsgemeinschaft auf der Kommandobrücke, wenn Kloten nach 56 Jahren in der höchsten Liga untergeht – zumindest wäre dieses Spektakel im Falle eines Falles selbst einer Schluss-Szene im Film «Titanic» würdig. Mit Blick nach Westen, in die über dem Flughafen untergehende Sonne. Sollte Kloten untergehen, dann wenigstens mit Stil.