Einst ähnelte die Zusammenstellung des WM-Teams einer langfristigen Altersvorsorge. Nun ist es so, als werde als Reserve für die alten Tage einfach ein Lottoschein ausgefüllt. Kommt's gut, hurra! Kommt's nicht gut, ist es auch nicht so schlimm. Es gibt ja noch die AHV.
Diese neue Ausgangslage ist den enormen Fortschritten unseres Hockeys geschuldet. Wir haben inzwischen das gleiche Problem wie die Finnen, Amerikaner, Kanadier, Schweden, Russen oder Tschechen. Die Besten stehen Patrick Fischer während der Saison und der WM-Vorbereitung nicht mehr alle zur Verfügung.
Für die anderen Grossen spielt es seit 30 Jahren keine Rolle, dass viele ihrer Besten für Länderspiele und die WM nicht in Frage kommen. Sie stellen ihre WM-Teams so oder so erst unmittelbar vor der WM aus den nicht in der NHL beschäftigten Spielern und ein paar Stars aus der heimischen Liga zusammen. Oft reicht es nicht einmal mehr zu einer Testpartie vor dem Turnier.
Unser Nationaltrainer hatte hingegen jahrelang den Vorteil, dass ihm praktisch alle Spieler während der ganzen Saison zur Verfügung standen. So hat Ralph Krueger ab 1997 die taktisch beste Nationalmannschaft der Welt aufgebaut und die Schweiz unter die «Top 8» der Welt gebracht.
Jedes einzelne Aufgebot war das Resultat sorgfältiger Überlegungen und die Komposition des Teams ein taktisches Kunst- und Meisterwerk.
2006 gelang der wohl erstaunlichste Erfolg: Mit nur einem Feldspieler aus der NHL (Mark Streit) und NHL-Goalie Martin Gerber besiegten die Schweizer beim olympischen Turnier die kanadischen NHL-Profis 2:0. Selbst bei der Silber-WM von 2013 begannen die Schweizer die WM mit nur zwei Nordamerikanern: mit Nino Niederreiter und Roman Josi – und nur Josi war NHL-Stammspieler. Im Laufe des Turniers kam noch Raphael Diaz dazu, damals bei den Montréal Canadiens.
Nun hat Patrick Fischer vor dem WM-Auftakt am Samstag gegen Österreich gleich sieben «Nordamerikaner» im letzten Trainingslager in Zürich dabei. Darunter mit Nino Niederreiter und Sven Andrighetto zwei bestandene NHL-Stürmer. Für die notorisch abschlussschwachen Schweizer sind NHL-Stürmer, die das Tor treffen, die wichtigsten Feldspieler.
Die Nationalmannschaft ist allerdings heute politisch viel schwächer als noch unter Ralph Krueger und Sean Simpson. Heute bestimmen die Klubs und nicht mehr der Nationaltrainer, welche Spieler während der Saison für die Länderspiele aufgeboten werden.
Eine systematische, langfristige taktische Schulung während der ganzen Saison ist unmöglich geworden. Es gilt nun, einfach vor der WM auf dem Nationalmannschafts-Lottoschein die richtigen Namen anzukreuzen.
Also reisen die Schweizer ohne ein einziges Testspiel in der WM-Formation zum Turnier. Nationalmannschafts-Direktor Raëto Raffainer hat zum zweiten Mal nach 2015 auf das traditionelle letzte Testspiel in der Woche vor der WM verzichtet. «Wir waren für die letzten zwei Testspiele in Riga und die Belastung wäre für die Spieler zu gross gewesen. Mehrere Spieler des WM-Teams hatten zudem am Freitag noch den Final bestritten.»
Allerdings ist die Vorbereitungszeit mit dem WM-Team so knapp wie nie zuvor. 2015 endete die Meisterschaft mit dem letzten Finalspiel am 11. April und die WM begann in Prag am 2. Mai mit der Partie gegen Österreich. Jetzt ist die Saison erst am 27.April zu Ende gegangen und bereits am 5. Mai beginnt die WM in Kopenhagen – erneut gegen Österreich. So wenig Vorbereitungszeit mit dem WM-Team wie 2018 hatte noch kein Nationaltrainer.
Diese neue Ausgangslage, dieses neue WM-Zeitalter ist kein Problem. Sie behagt dem Nationaltrainer ohnehin viel besser. Das Einfuchsen von Spielsystemen, der Alltag des Trainerberufes liegt ihm nicht. Er ist ja als Klubtrainer in Lugano gescheitert. Er musste in Lugano gehen, als er bis auf den letzten Platz abgerutscht war – und seither hat Lugano in drei Jahren zweimal das Finale erreicht. Patrick Fischers Stärke liegt im «weichen» Bereich: in der Fähigkeit, in kurzer Zeit eine gute Stimmung zu kreieren und die Nationalmannschaft zu «verkaufen».
Bei drei Titelturnieren (WM 2016 und 2017, Olympiaturnier 2018) hat Patrick Fischer nur ein einziges Mal (WM 2017) wenigstens das Minimalziel Viertelfinale erreicht. Trotzdem ist sein Vertrag vorzeitig bis 2020 verlängert worden.
Aber so lange die Schweizer nicht absteigen, spielt es eigentlich keine Rolle mehr, ob sie ins Viertelfinal kommen. Dabei müsste heute das Halbfinale das Ziel und das Viertelfinale selbstverständlich sein: Inzwischen haben wir gut und gerne 40 WM-taugliche Spieler. Vor zehn Jahren waren es lediglich 15 bis 20.
Mindestens so wichtig wie ein gutes Resultat ist eine gute Aussendarstellung, garniert mit guten Ausreden. Darauf wird sehr viel Wert gelegt. Janos Kick, der tüchtige Kommunikationschef des Verbandes hat am vergangenen Freitag Rolf Bichsel, den Hockeychef der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) früh aus dem Bett gescheucht. Um sich telefonisch zu beschweren: die Berichterstattung über den Sieg in Lettland (2:1 n.V.) vom Vorabend sei viel zu kritisch gewesen.
Hoffen wir, dass Rolf Bichsel wenigstens während der WM ausschlafen kann.