Wir können zu Nico Hischiers Debüt allerlei Zahlen bemühen. Die Statistiker haben alles notiert. Sechs Torschüsse, zwei Checks und in 19 Einsätzen 15:44 Minuten Eiszeit, davon 4:25 Minuten in Über- und 58 Sekunden in Unterzahl. Bei keinem Tor auf dem Eis. Die wichtigste Szene, die bisher wichtigsten Sekunden seiner Karriere, tauchen allerdings in keiner Statistik auf.
Die 38. Minute läuft. Colorados Verteidiger Erik Johnson erwischt New Jerseys Kyle Palmieri mit einem Kniestich. Der Stürmer, der die zwei ersten Tore vorbereitet hat, bleibt auf dem Eis liegen, muss anschliessend in die Kabine geführt werden und kehrt nicht mehr zurück.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, geht Nico Hischier auf Erik Johnson los. Er reagiert als erster auf das Unrecht, das seinem Teamkameraden widerfahren ist. Für Sekundenbruchteile halten alle den Atem an. Wird Erik Johnson (29), Nummer 1 im Draft von 2006, die Handschuhe fallen lassen? Kommt es zum «Fight» zwischen dem Titanen (193 cm/105 kg) mit der Erfahrung aus mehr als 500 NHL-Spielen und dem vergleichsweise schmächtigen NHL-Frischling (186 cm/81 kg)?
Bevor es zum Eklat kommt, eilt Taylor Hall herbei und nimmt den Schweizer aus der «Kampflinie». Hätte Nico Hischier den Kampf angenommen und ausgetragen? «Wahrscheinlich schon. Ich war voller Adrenalin.» Er habe noch nie einen «Fight» gehabt. «Aber ich hätte es für meinen Teamkollegen getan.»
Eishockey ist eben viel mehr als Statistik, Taktik und Tore. Eishockey ist Leidenschaft, Kameradschaft, die Bereitschaft, sich für seine Mitspieler aufzuopfern. Die Nordamerikaner betonen immer wieder, Eishockey sei der letzte echte, wahre Teamsport. Cheftrainer John Hynes kommt hinterher ausführlich auf diese Szene zu sprechen und wusste, warum es nicht zum «Showdown» gekommen ist.
«Johnson hat sofort realisiert, wen er vor sich hatte. Er und auch sonst niemand wollte einen Fight mit einem 18-jährigen Rookie.» Nico Hischier habe ein starkes Zeichen gesetzt. «Er denkt mehr an sein Team als an sich selbst.» Ein Zeichen, mit dem er den Cheftrainer und seine Teamkollegen stärker beeindruckt hat als mit Toren oder Assists.
Diese Szene zeigt auch, warum Nico Hischier in der langfristigen Planung der New Jersey Devils als erster Center, Spielmacher und Scorer eine zentrale Rolle spielt. Er soll ein Leitwolf für diese junge Mannschaft werden.
Mit der Art und Weise, wie er ohne zu zögern, ohne Furcht sofort bereit war, seinen Teamkollegen gegen einen übermächtigen Gegenspieler zu «rächen», hat er diese Erwartungen bestätigt. In dieser Szene ist aus dem Junior ein Mann geworden. In dieser Szene hat er einen riesigen Schritt auf dem langen Weg zum Leitwolf, zum Captain eines NHL-Teams gemacht. Dazu passt auch, dass Nico Hischier nach dem Spiel in allen Statements immer wieder betont hat, er sei mit seiner Leistung zufrieden. Aber noch viel wichtiger sei der Sieg seiner Mannschaft. Er sagte es nicht nur so, weil man das in Nordamerika so sagt. Er meinte es auch so.
Und wo steht Nico Hischier spielerisch? Auf sehr hohem Niveau. Er hat in seiner ersten NHL-Partie nicht anders gespielt als bei den Junioren: dominant, dynamisch, offensiv, mutig. Wie bei den Junioren zog er das Spiel an sich und übernahm Verantwortung. Wer nicht wusste, dass ein 18-jähriger NHL-Neuling im Dress mit der Nummer 13 steckt, nahm an, hier sei ein Routinier am Werk. Auch wenn es keinen Vergleich mit Wayne Gretzky geben kann – Nico Hischier hat etwas vom Genie des grössten Spielers aller Zeiten: nämlich diese «360-Grad-Übersicht». Er behält das gesamte Spielfeld im Auge und erahnt die Spielentwicklung. Seine Pässe sind perfekt getimt und präzis und er ist einer, der seine Mitspieler besser macht. Und es ist diese Übersicht, die ihn davor bewahren wird, das Opfer von rüden Checks zu werden.
New Jersey ist ein junges Team. Neben Nico Hischier haben auch der schwedische Flügelstürmer Jesper Bratt (19) und der amerikanische Verteidiger Will Butcher (22) ihr erstes NHL-Spiel bestritten – und beide standen nach der Partie erst einmal im Mittelpunkt. Die Anzahl Mikrofone, die Nico Hischier entgegengestreckt wurde, sank von 23 am Vortag auf 9.
Die Chronistinnen und Chronisten bemühten sich erst einmal intensiver um Will Butcher (3 Assists!) und Jesper Bratt (1 Tor/1 Assist). Ihr NHL-Debüt fiel statistisch halt spektakulärer aus. Obwohl sie im Draft nur Hinterbänkler waren. Der Schwede wurde 2016 als Nummer 162 gezogen und hat nach dem Draft letzte Saison noch in Schweden gespielt. Will Butcher ist 2013 nach dem Draft (Nr. 123) noch einmal an die Universität zurückgekehrt.
Nico Hischier ist hingegen nach dem Draft nun direkt in die NHL eingestiegen. Nach neun Partien muss General Manager Ray Shero entscheiden, ob Nico Hischier die Saison in der NHL fortsetzt oder zur Weiterbildung zu den Junioren oder zum SC Bern zurückgeschickt wird. Diese Option ist kein Thema mehr. Cheftrainer John Hynes sagt, Nico Hischier habe sich seit dem Draft als Persönlichkeit und Spieler stetig weiterentwickelt und alle Erwartungen erfüllt. «Er versteht es, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren und mit den hohen Erwartungen umzugehen.»
Die Partie New Jersey gegen Colorado war ungefähr so, wie ein Spiel auf dem Level zwischen Kloten und Ambri – letzte Saison waren die Devils als Nummer 27 der Liga das schwächste Team im Osten und Colorado als Nummer 30 (und Gesamt-Schlusslicht) die miserabelste Mannschaft des Westens.
Aber mit Nico Hischier hat der lange Weg zurück zum Ruhm begonnen. Die Begeisterung ist trotz fünf Jahren ohne Playoffs gross. Das Stadion war ausverkauft (16'514 Zuschauer). Mit einer der besten Pregame-Shows die ich je im Hockey gesehen habe, wird der Aufbruch zu neuen Horizonten beschworen und mit Musik der Pink Floyd vom Album «The Dark Side of the Moon» untermalt. Am Schluss schreiten die Spieler in einen goldenen Sonnenaufgang – auf dem grössten Videowürfel der Welt.
Nico gets #TheJacket.
— New Jersey Devils (@NJDevils) 7. Oktober 2017
Continuing off our trip and the themes of West Point, it's awarded to the player who sticks up for his teammates. pic.twitter.com/iouBcqrxwD
Nico Hischier ist ein Glücksfall für die Devils – und umgekehrt. Hier bekommt er die Zeit, um sein enormes Potenzial zu entfalten. Er wird diese Saison wohl zwischen 60 und 70 Partien in der NHL eingesetzt. Seine erste NHL-Saison ist nach wie vor eine Lehr- und Entwicklungsphase. In drei bis vier Jahren wird er mit Abstand der beste Schweizer Spieler aller Zeiten sein – und einer der besten in der NHL.
P.S.: Ob dem Spektakel rund um die drei «Rookies» Nico Hischier, Will Butcher und Jesper Bratt ist Mirco Müller (22) schon wieder vergessen gegangen. Der Winterthurer war der vergessene Held des Spiels und spielte als Defensiv-Verteidiger auch im Boxplay (kein Gegentreffer 6:58 Minuten Unterzahlspiel) eine Schlüsselrolle. Mit insgesamt 21:43 Minuten bekam er am zweitmeisten Eiszeit. New Jersey buchte drei Treffer im Powerplay und einen in Unterzahl – dass Mirco Müller beim einzigen Gegentor auf dem Eis stand ist ein «Schönheitsfehler», der seine hervorragende Leistung nicht schmälert. Und schliesslich gab es bei New Jersey noch einen dritten Schweizer: Torhüter Cory Schneider ist helvetisch-amerikanischer Doppelbürger. Er hat während des letzten NHL-Arbeitskampfes im Herbst 2012 acht Partien für Ambri bestritten – und sicherte New Jerseys Sieg im ersten Spiel mit einer Fangquote von 97,60 Prozent.