Die Hockeygötter meinen es gut mit der Schweiz. Wir erleben in Kopenhagen eine Sternstunde unserer Hockeygeschichte.
Nach Mirco Müller, Timo Meier, Nino Niederreiter und Sven Andrighetto stehen ab Sonntag mit Roman Josi und Kevin Fiala zwei weitere Feldspieler zur Verfügung, die sich diese Saison in der NHL bewährt haben.
Noch nie hatte ein helvetisches WM-Team so viel NHL-Power. Selbst bei der Silber-WM von 2013 hatten wir nur zwei NHL-Profis: Roman Josi und für die letzten vier Turnierspiele Raphael Diaz von den Montréal Canadiens. Nino Niederreiter hatte damals die ganze Saison im Farmteam verbracht.
Roman Josi war 2013 MVP – also der wertvollste, beste Einzelspieler des gesamten WM-Turniers. Er hat zwar nach dem Scheitern in den Playoffs mit Nashville soeben die bitterste Enttäuschung seiner NHL-Karriere zu verkraften, aber er kann erneut, wie 2013, eine dominierende Rolle spielen.
Er ist nicht nur ein Verteidigungsminister mit Weltformat. Er befeuert auch die Offensive und verkraftet, wenn erforderlich, mehr als 25 Minuten Eiszeit.
Für Kevin Fiala (21) ist es nach 2014 das zweite WM-Turnier. Damals bestritt er die U18-WM, die U20-WM und in Minsk die «richtige» WM in der gleichen Saison. Er kam in Minsk in 7 Spielen auf 2 Assists. Inzwischen ist er ein Stürmer geworden, der selbst auf NHL-Niveau «Game-Breaking-Potenzial» hat. Also Spiele im Alleingang zu entscheiden vermag. Nicht so kräftig und geradlinig wie Nino Niederreiter oder Timo Meier. Aber unberechenbarer und technisch wahrscheinlich sogar noch besser. Für Nashville erzielte er diese Saison 23 Treffer.
Die Schweiz hat zwar noch nicht einmal definitiv die Viertelfinals erreicht. Es gibt nach wie vor eine theoretische Möglichkeit des schmählichen Scheiterns. Trotzdem gilt: Wenn Reto Berra oder Leonardo Genoni ihr bestes Hockey zelebrieren, dann können die Schweizer das Viertelfinale überstehen und anschliessend ist alles möglich.
Offensiv sind wir nun gut genug, um gegen Kanada, Finnland oder die USA vier Tore zu erzielen. Die grosse, die bange Frage ist, ob es gelingt, die Defensive in den verbleibenden drei Gruppenpartien gegen Russland, Schweden und Frankreich so zu justieren, dass selbst Kanada, die USA, Finnland und, wenn es im Verlaufe der WM zu einer weiteren Begegnung kommen sollte, Russland oder Schweden weniger als vier Tore gegen uns zustande bringen.
Zum ersten Mal seit 1951 (WM-Bronze in Paris) ist für die Schweiz auf WM-Niveau nicht in erster Linie das Toreproduzieren, sondern das Toreverhindern das grössere Problem.
Patrick Fischers Vorgänger hatten jahrelang nicht einmal die Stürmer für eine einzige offensiv durchschlagsfähige Sturmlinie. Jetzt haben wir die Spieler für mindestens drei Linien, die auf diesem Niveau Tore erzielen können.
Patrick Fischers Vorgänger mussten jahrelang taktische Mittel und Wege suchen, wie wir die Titanen wenigstens im Spiel ohne Puck neutralisieren und besiegen können. Weil wir nicht genug Spieler für eine einzige Linie hatten, die mit dem Puck gut genug war, um sich gegen die Besten der Welt durchzusetzen. Jetzt haben wir Stürmer für mindestens drei Linien, die sich mit dem Puck gegen jede Nationalmannschaft der Welt durchsetzen können.
Die Schweiz hat zwar seit der Rückkehr in die höchste WM-Gruppe (seit 1998) erst einen einzigen Viertelfinal gewonnen. 2013 gegen Tschechien (2:1). Und der Grundsatz gilt noch immer: Namen, noch so grosse, sind nur auf dem Dress aufgenähte Buchstaben. Eishockey ist und bleibt der wahre Mannschaftsport.
Aber wie wir es drehen und wenden: Angesichts der Buchstaben, die hier in Kopenhagen aufs Schweizer Dress genäht werden – wenn die Schweiz nicht übers Viertelfinale hinauskommt, dann ist dies eine Enttäuschung. Und eine verpasste «Hockey-Jahrhundertchance».
Noch nie in der neueren Geschichte der WM hatte ein Coach mit so wenig Erfahrung wie Patrick Fischer so viel Talent zur Verfügung. Das muss kein Nachteil sein. Eine so gute Mannschaft kann ihren Coach im Amt wachsen lassen. An schweizerischer Bescheidenheit und schweizerischem Kleinmut werden wir nicht scheitern. Patrick Fischer hat schon mehrmals gesagt, die Schweiz könne, wenn alles passe, einmal Weltmeister werden.
In Kopenhagen scheint zum ersten Mal vieles zu passen. Und Kopenhagen passt als WM-Hauptort. Dem neutralen Chronisten kommt nach 30 Jahren meist «leidvoller» WM-Erfahrungen eine Mannschaft mit so viel Talent fast so utopisch vor wie die Freistadt Christiania, ein Stadtteil von Kopenhagen. Diese alternative Wohnsiedlung besteht seit 1971.
Die Bewohner betrachten Christiania als freie Stadt, die sich basisdemokratisch unabhängig von den staatlichen Behörden verwaltet. Eine Polizei gibt es nicht, verschiedene Formen von Versammlungen intervenieren im Bedarfsfall.
Das wirkt fast so utopisch wie das Schweizer WM-Team 2018. Aber Christiania existiert tatsächlich.