Zugegeben, nicht jedes Fussballer-Interview ist nach 90 Minuten Kampf und Krampf eine intellektuelle Offenbarung. Zu oft rufen die Platitüden vom Spielfeldrand geradezu nach einer gepflegten Partie Bullshit-Bingo. Entsprechend wird über kaum ein anderes Sport-Thema derart viele platte Witze gerissen. «Fussballer sind halt nicht die Hellsten», ein pauschales Vorurteil, das sich landauf landab hartnäckig hält – fast so wie geleakte Nacktfotos im Internet.
Umso erstaunlicher ist das Resultat, wenn man den Bildungshintergrund der Nati-Neulinge in Vladimir Petkovics erstem Aufgebot einmal genauer unter die Lupe nimmt. Drei Rookies und ein Rückkehrer stehen gegen England im Kader – und drei von ihnen könnten stattdessen auch im Hörsaal sitzen.
Silvan Widmer und Loris Benito haben sich an der «Alten Kantonsschule Aarau» die Matur erackert. Fabian Frei, der unter Hitzfeld aus den
Traktanden gefallen war, besitzt einen Handelsmittelschulabschluss und damit die Berufsmatur, die ihm den Zugang zur Fachhochschule garantiert.
Damit hat Petkovic den Anteil der «Intellektuellen» in seinem Kader mehr als verdoppelt. Während der WM waren einzig Fabian Schär (Berufsmatur) und Gelson Fernandes (Matur) potentielle Akademiker.
Alles Zufall, oder doch Kalkül? Der neue Nationaltrainer und ehemalige Sozialarbieter hat in mehr als einem Interview betont, wie stolz er auf seine Ausbildung zum zertifizierten Erwachsenenbildner ist. Zudem gilt er als Verfechter einer theoretisch anspruchsvollen Fussballphilosophie ohne feste Normen, die viel Spielintelligenz erfordert.
Hat er eine Vision? Umgibt sich Petkovic absichtlich mit klugen Spielern und baut die schlauste Nati aller Zeiten? Wir fragen Jan Rauch, Sportpsychologe und Studiengangleiter an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Herr Rauch, der gelernte Erwachsenenbildner Vladimir Petkovic nominiert auffällig viele Neulinge mit einem höheren Schulabschluss für die Schweizer Nationalmannschaft. Zufall, oder Strategie?
Jan Rauch: Das ist eine spannende These. Bei den meisten Menschen hat ein Grossteil des Freundeskreises einen ähnlichen Bildungshintergrund. Studierte Leute haben meistens auch viele studierte Kollegen. Es ist allerdings nicht klar, ob man einfach mehr Leute aus der gemeinsamen Ausbildung kennt oder einem Leute mit einem ähnlichen Bildungsgrund sympathischer sind.
Spielt es für ein Sportteam überhaupt eine Rolle, welchen schulischen Background die Mitglieder haben?
Ein Team stellt man idealerweise nach verschiedenen Eigenschaften und den zugedachten Rollen zusammen. Es nützt nichts, wenn man nur Reisser drin hat. Man braucht auch die stillen Arbeiter, die Kontrolleure und so weiter. Der Schulabschluss ist für ihn sicher nicht das Hauptkriterium. Ein Spieler muss in erster Linie ein hervorragender Fussballer sein – aber wenn die Kombination stimmt, dann ist das ideal.
Kann der Trainer denn davon profitieren, wenn er auch «Intellektuelle» in der Mannschaft hat?
Wenn Vladimir Petkovic diese Entscheidung bewusst getroffen hat, dann kann das für ihn durchaus sinnvoll sein. Es wäre zum Beispiel möglich, dass er einen zukünftigen Captain heranreifen lassen will, mit dem er sich intellektuell auf Augenhöhe austauschen kann.
Also ein strategisch geplanter Akt?
Ich kann mir auch vorstellen, dass er unbewusst gehandelt hat. Wenn diese Spieler ihm sympathisch waren, weil sie schlaue und herausfordernde Gesprächspartner sind, dann könnte ihn das in seiner Entscheidung beeinflusst haben – auch ohne dass er sich dessen bewusst ist.
Dann hätten Sie immerhin das Heu auf einer Bühne.
Mir ist ein umgekehrter Fall bekannt. Bei einem Schweizer Team aus der 2. Liga hat der Trainer die Studenten systematisch aussortiert. Es kann auch anstrengend sein für einen Trainer, wenn ihn intellektuell versiertere Spieler ständig hinterfragen.
Wie sieht es auf Vereinsebene aus? Werden die Talente durch die Klubs genug gefördert?
Tendenziell hat sich die Situation in den letzten Jahren stark verbessert. Die Klubs legen mehr Wert darauf, dass ihre Nachwuchsspieler auch eine solide Bildung bekommen. Das ist aber natürlich immer auch eine Frage des Geldes. Der Trend ist gut, aber noch ist nicht alles super.