Der jüngste Meistertitel ist ein Höhepunkt in der Geschichte des BSC Young Boys. Bald könnten die Berner sogar das erste Double seit 60 Jahren gewinnen, im Cupfinal treffen sie Ende Mai auf den FC Zürich. Gab es in der YB-Historie seit 1958 auch einen Tiefpunkt? Peter Lerch, Redaktor der Nachrichtenagentur SDA und ausserhalb der journalistischen Tätigkeit seit Jahr und Tag YB-Fan, schlägt den 21. November 1999 vor. Er erinnert sich:
Im Herbst 1999 vermied ich jeden Besuch im Wankdorfstadion. Schier Woche für Woche musste ich mich über die Ergebnisse aufregen. Die Tore fielen ungefähr im Verhältnis 2:1 gegen YB, die Punkte wurden nach dem gleichen Schlüssel verteilt.
Warum es mich am kältesten Sonntag des Herbstes doch noch ins Stadion zog, kann ich nicht sagen. Vielleicht musste es sein. Sonst könnte ich den späten Rapport nicht abliefern. Die Affiche hiess YB gegen Etoile Carouge, Zehnter (Drittletzter) gegen Sechster der Nationalliga B. Die Young Boys standen längst als Teilnehmer an der Abstiegsrunde zur ersten Liga fest. Es ging um nichts mehr.
Die Bise pfiff über die Luzeren Richtung Stadion und verstärkte die Minustemperaturen. Ich beschloss, das Spiel aus einem Winkel zu geniessen, den ich nicht kannte. Ich setzte mich in die rechte obere Ecke der Tribüne. Dort war ich allein. Vielleicht hatte ich gehofft, dass die verdreckte, im Lauf der Jahrzehnte milchig gewordene Scheibenfront, der Abschluss der Tribüne gegen die Sempachstrasse hin, die Bise ein wenig abhalten würde. Aber es war nicht so.
Nach ein paar Minuten fiel das erste Tor, erzielt von Thierry Ebe, Stürmer von Etoile Carouge. Wenig später verkündete der Speaker, dass alle Matchbesucher Gratiszutritt zur Haupttribüne bekämen. Mir schien, dass die wenigsten der wenigen Zuschauer das Angebot nutzten. Die meisten der wenigen wussten wohl, dass sie die Kälte im Stehen besser aushalten konnten.
Nach dem Tor war in der ganzen ersten Halbzeit nichts mehr los. Ich hörte nur die auf den Platz gerufenen Anweisungen der Trainer und die Zurufe unter den Spielern. Ich nutzte die Langeweile, um das Wankdorf aus dem seltsamen Blickwinkel zu betrachten. Es kam mir unwirklich vor. War es das Stadion, in dem ich keine 14 Jahre vorher eine Meisterfeier gesehen hatte?
In der Pause schritt ich das Stadion ab. Jenes Stadion, von dem ich als Bub im Emmental geglaubt hatte, es sei das grösste, das schönste, das einzige wirkliche Stadion. Jetzt aber erschreckte mich das Wankdorf alle paar Meter. In der Nähe des Eingangs Papiermühlestrasse traf ich auf das Merchandising.
Es fand auf einem kleinen Holztisch statt. Zwei ältere Herren standen dort und hatten nichts zu tun. Die Waren waren ohne erkennbare Ordnung ausgebreitet. Auf ein paar Artikeln lagen mit Filzstift beschriebene Preisschilder. Die Schilder hatten alle möglichen Formen. Jemand musste sie aus einer Kartonschachtel herausgerissen haben. Gerissen, nicht geschnitten.
Ich wäre mir schäbig vorgekommen, wenn ich davongelaufen wäre, ohne den Rentnern einen Tagesumsatz zu ermöglichen. Ich verlangte einen YB-Schal, obwohl ich auf dem Tisch keinen entdeckt hatte. Tatsächlich beschied man mir, die Schals seien bestellt, aber noch nicht eingetroffen. In der Rückrunde würde ich einen kaufen können. So kaufte ich für den geschätzten Gegenwert eines Schals zwei YB-Dächlikappen. Eine schwarze mit gelbem Emblem und eine gelbe mit schwarzem Emblem.
Den vorletzten Punkt des Rundgangs hätte ich weglassen sollen. Im Pissoir empfing mich eine Palette von Gerüchen. Einer davon war ekelhaft penetrant. Zuletzt hätte ich die obligate Kalbsbratwurst erworben. Auch vor diesem Stand stand fast niemand an. Ich hätte direkt bezahlen und die Wurst, die zwei Bitz Brot und den Kartonteller mit viel Senf behändigen können. Für diesmal musste ich es sein lassen, denn ich hatte die Eindrücke der Inspektion im Pissoir noch nicht verarbeitet.
In der zweiten Halbzeit ging der jämmerliche Fussball weiter und ich musste mich sogar noch mehr aufregen. Die Schiedsrichterin hiess Nicole Mouidi-Petignat und verweigerte YB einen Penalty. Auf die Distanz zum weiter entfernten Strafraum konnte ich mit meiner ständigen leichten Kurzsichtigkeit nicht erkennen, welcher Spieler gefoult worden war. Aber das Foul an sich war in meinen Augen klar und unstrittig.
Wieso die Schiedsrichterin nicht pfiff, war mir schleierhaft. Admir Smajic war ein sicherer Penaltyschütze. Es hätte 1:1 geheissen, und YB hätte höchstwahrscheinlich gewonnen. Eine Weile lehnten sich die Spieler gegen das Unrecht auf. Der wirblige Stürmer Agent Sawu im Dienste der Berner kam zweimal, eher dreimal gut zum Abschluss. Die Szenen hätten in der Summe eine Hundertprozentige ergeben.
Zwischen dem 0:2 von Thierry Ebe Mitte der zweiten Halbzeit und dem Schlusspfiff war nichts mehr los. Ich harrte aus, bis ich den Schlusspfiff hörte. Ich war nie einer der Zuschauer, die das Wankdorf nach 80 Minuten enttäuscht verliessen.
Auf dem Heimweg gingen mir die Eindrücke des Nachmittags durch den Kopf. Sawus Drittelchancen, 0:2 gegen Etoile Carouge, 3 Grad unter 0 plus Bise, die Preisschilder, Ebe, Petignat, das Wankdorf und sein Zustand, der verunmöglichte Wurstgenuss. Und die offizielle Zuschauerzahl: 1761.
Ich beschloss, dass der 21. November 1999 mein Lebtag der Tiefpunkt des Klubs gewesen sein musste. Es konnte und durfte nicht weiter hinuntergehen.
Heute habe ich immer noch Recht. Im letzten Vorrundenspiel gewann YB in Wil 4:0, Agent Sawu erzielte einen Hattrick. Die NLB-Abstiegsrunde begann bei null. Etoile Carouge stieg mitsamt Ebe in die 1. Liga ab. YB wurde Meister der Abstiegsrunde. In der darauffolgenden Saison stiegen die Young Boys auf. Seither sind sie oben. Und jetzt ganz oben.