Spielst du noch oder arbeitest du schon? Einem Teenager sieht man fehlende Ernsthaftigkeit schon mal nach. Insbesondere, wenn er wie Marvin Spielmann Fantasien anregt. Nach Toren, nach Millionen. Ein hochbegabter 19-Jähriger ist heute nicht bloss ein Talent, sondern ein wertvolles Asset. Ein Spekulationsobjekt auf dem Transfermarkt. Und weil im hochtourigen Fussballgeschäft alle mit ultimativem Ehrgeiz nach Perlen tauchen, spielt das Kleingedruckte eine untergeordnete Rolle.
Marvin Spielmann braucht nur 17 Challenge-League-Spiele, um ein reicher Mann zu werden. 825'000 Franken überweist der FC Wil an den FC Aarau. Und Spielmann soll in der Ostschweiz gerüchteweise gegen 25'000 Franken pro Monat kassieren. Viel Geld für einen, der die KV-Lehre noch nicht abgeschlossen hat.
Die Krux an der Geschichte: Mit dem Wechsel zu Wil gilt Spielmann als «Geld-Spieler», weil er, so die öffentliche Meinung, den Lohn höher gewichtet als die sportlichen Aspekte. Ausser Geld hat der neureiche FC Wil nicht viel zu bieten. Und alle paar Wochen ein neuer Trainer ist für die Entwicklung eines jungen Spielers gewiss nicht förderlich.
Nur ein Jahr später gleicht der FC Wil einem Trümmerfeld. Der türkische Investor steigt aus und Spielmann wird vor die Wahl gestellt: Entweder eine Lohnreduktion von 75 Prozent akzeptieren oder der Vertrag wird aufgelöst. Spielmann schiesst in einem Jahr in der Ostschweiz zwar nur zwei Tore. Aber eben: Er regt noch immer Fantasien an. Selbst bei Klubs in der Super League.
Der FC Thun ist die perfekte Adresse für den zweiten Bildungsweg. Das war schon bei Renato Steffen und vielen anderen der Fall. «Begabte Spieler, die aus irgendwelchen Gründen den Durchbruch nicht geschafft haben, entsprechen unserem Beuteschema», sagt Trainer Marc Schneider. «Ausserdem registrieren die Spieler, dass die Reise hier nicht zu Ende geht, sondern erst richtig beginnt und viele unserer Spieler später nach Bern, Basel oder Zürich wechseln.»
Eine Spielklasse hoch, zwei Lohnstufen runter – trotzdem zögert Spielmann nicht lange. «Schon im ersten Gespräch hat mir Marvin versichert, dass er den FC Wil nicht als Normalfall betrachtet. Wichtig ist, dass er mit dem Wechsel zu uns auch das Etikett des Geld-Spielers abgelegt hat.»
Spielmann wächst in Olten auf. Seine Mutter Cecile ist 20, als sie aus der Demokratischen Republik Kongo in die Schweiz migriert. Als Spielmann sieben ist, trennen sich die Eltern. Der Junge bleibt bei Vater Markus. Auch, als seine Mutter Jahre später nach Paris zieht. Was hat die Trennung ausgelöst? «Nicht viel», sagt er. «Sie hat eher den Prozess der Selbstständigkeit beschleunigt. Denn ich bin schon mit elf allein mit dem Zug von Olten nach Aarau ins Training gefahren. Und meine Mutter ist ja nicht aus der Welt. Paris ist schnell erreicht und ich besuche sie ein- bis zweimal pro Jahr.»
Fussballbegeisterung aus dem eigenen Haus kennt Spielmann nicht. Er beginnt mit Judo und hat Freude daran, weil das Training immer mit einem Ball in der Mitte beginnt. Irgendwann hat er nur noch Freude am Ball. Also geht er Fussball spielen. Vater Markus, nebenbei Gitarrist und Sänger der Rockabilly-Band B-Shakers, soll einst «Geld zurück!» gerufen haben, als Spielmann beim FC Wil nach wenigen Minuten verletzt ausgewechselt wurde. «Stimmt nicht ganz», sagt Spielmann. «Mein Vater hat sich mal ein Spiel des FC Wil am TV gekauft und mir im Scherz per SMS mitgeteilt, dass er die fünf Franken zurückfordere, weil ich nur wenige Minuten auf dem Platz war.»
Im Zusammenhang mit Spielmann ruft heute keiner «Geld zurück». Im Gegenteil. Fünf Treffer hat er nach sechs Runden bereits erzielt. Die fantastische Quote gründet einerseits in seinem Talent, aber vor allem auch in seiner Entwicklung. Spielmann macht nun Ernst. Die negative Körpersprache ist einem selbstbewussten Auftreten gewichen. Die flatterhafte Attitüde hat er gegen eine fokussierte Haltung eingetauscht. Geblieben ist indes seine Unberechenbarkeit – zumindest jene im positiven Sinn.
«Früher gab ich mich zufrieden, wenn ich ein Tor geschossen habe», sagt Spielmann. «Heute will ich ein zweites schiessen. Und danach strebe ich das dritte an. Immer weiter, immer vorwärts, immer besser werden – das ist meine Devise, in jedem Moment.»
Belohnt wird er mit einem Aufgebot der Schweizer U21 und grossen Einsatz-Chancen für die EM-Qualifikationsspiele gegen Wales und in Rumänien. Die ersten Monate in Thun war er noch Ergänzungsspieler. Spielmann nahm das klaglos hin, weil Thun ihm nie etwas anderes versprochen hatte.
«Er hat in diesen Monaten viel gelernt, weil er einen guten Draht zu Spielern wie Hediger, Bürgy oder Lauper aufgebaut hat, die punkto Ernsthaftigkeit und Professionalität riesige Vorbilder sind», sagt Trainer Schneider. Nun ist er dort, wo man ihn schon vor ein, zwei Jahren erwartet hat: eine Attraktion in der Super League, ein begehrtes Juwel auf dem Transfermarkt, aber vor allem auch ein Hoffnungsträger für den Schweizer Fussball.