Wollen Sie demnächst einen vermeintlichen «Fussballexperten» gründlich aufs Glatteis führen? Dann sei Ihnen diese Frage wärmstens ans Herz gelegt: «He, wie hat dir dieser Silvan Widmer eigentlich früher in der Super League gefallen – du weisst schon, dieser Neue aus der Nati, der gegen England im Kader steht?»
Denn Fakt ist: Der gelernte Aussenverteidiger mit Jahrgang 1993 hat nie in der höchsten Schweizer Spielklasse gespielt. Mit acht Toren und sechs Assists ist der ehemalige Würenlos- und Baden-Junior in der Saison 2012/13 zwar massgeblich am Aufstieg des FC Aarau beteiligt, doch da ist er längst nur noch als Leihgabe in seiner Geburtsstadt parkiert.
Der umtriebige italienische Geschäftsmann Giampaolo Pozzo hat sich Widmers Transferrechte ein Jahr zuvor für eine Million Franken gesichert und beruft ihn nach Matur- und Aufstiegsfeier ab. Die Reise geht ins Friaul zu Udinese Calcio – und das ist eine gewaltige Auszeichnung. Denn der Serie-A-Klub ist neben Granada und Watford der dritte und renommierteste Klub, den der 72-jährige Pozzo dank seines in der Metallbranche erworbenen Vermögens kontrolliert.
Das Geschäftsmodell von Pozzos Klub-Triangel basiert auf schierer Masse. Er kauft Talente für maximal drei Millionen Euro en gros und schiebt sie entsprechend ihres Leistungsstands zwischen Spanien, England und Italien umher. Granada ist so innerhalb von zwei Jahren aus der dritten Liga in die Primera Division durchmarschiert, Watford verlor vor einem Jahr mit zehn Udinese-Leihspielern nur knapp das Aufstiegsspiel in die Premier League.
Entsprechend gross ist Widmers Konkurrenz in Italien 2013 bei seiner Ankunft aus der Challenge League. 50 Spieler sollen es im ersten Training gewesen sein, genau gezählt hat sie wohl keiner. Einer nach dem anderen wird in der Vorbereitung von Trainer Francesco Guidolin rasiert – doch Widmer bleibt bis zum Schluss. Er geht mit der Nummer 27 in die Saison.
Dort kaut er zu Beginn hartes Brot. Nach 44 Spielminuten im August bei einem Spiel der Europa-League-Qualifikation muss er sich bis im November auf seinen ersten Liga-Einsatz gegen Inter Mailand gedulden. Die 90 Spielminuten im rechten Mittelfeld enden mit einem 0:3 und der Schweizer landet wieder auf der Bank. Widmers Freundin Celine, die gemeinsam mit ihm nach Italien gezogen ist, steht ihm zur Seite.
Erst nach der Winterpause löst sich der Knoten. Ab Februar ist Widmer plötzlich Stammspieler und wirbelt auf der rechten Aussenbahn wie einst in Aarau. 16 Serie-A-Einsätze und vier Cupspiele bei Udineses Halbfinal-Kampagne sind es am Saisonende. Die Vertreter der italienischen Presse lieben den Schweizer, der mit ihnen fliessend Italienisch parliert – weil er das eben wichtig findet. Sie nennen ihn «gioiellino» – kleines Juwel.
Auch unter dem neuen Udinese-Trainer Andrea Stramaccioni ist Widmer zum Auftakt der aktuellen Saison eine feste Grösse und spielt beide bisher absolvierten Pflichtspiele durch. Und so ist das erste Nati-Aufgebot durch Vladimir Petkovic auf Kosten des schwächelnden WM-Fahrers Michael Lang die logische Konsequenz.
Da steht er jetzt also – vor dem Panorama Resort & Spa-Hotel in Feusisberg beim Zusammenzug für den Kracher gegen England zum Auftakt der EM-Kampagne. Frisch eingekleidet in die Nati-Uniform, die Hände lässig in den Hosentaschen – und erklärt den versammelten Schweizer Journalisten, die seinen kometenhaften Aufstieg der vergangenen Monate irgendwie fast alle nicht so richtig auf dem Radar hatten, wer er eigentlich ist: «Ich bin ein Aussenverteidiger, der versucht, viele Akzente nach vorne zu setzen. Im Verein spielen wir 3-5-2, da bin ich sogar noch offensiver.»
Ob er sozusagen der Lichtsteiner von Udinese sei, wird Widmer gefragt. Er lacht, streicht sich durch den blonden Irokesen und sagt: «Ja, das könnte man so sehen. Stephan Lichtsteiner ist sicher mein direkter Konkurrent, aber er ist ein Riesenfussballer, da muss ich mich als Neuer hinten anstellen. Es geht auch darum, zu lernen.»
Überhaupt gibt sich der Nati-Neuling extrem bescheiden: «Ich habe gehofft, dass der Tag des Aufgebots einmal kommt, aber ich habe nie damit gerechnet, dass es so früh soweit ist. Jetzt muss ich das rechtfertigen und mich aufdrängen. Obwohl ein neuer Trainer da ist, gibt es etablierte Spieler und ich fange von null an. Aber ich werde versuchen, mich hochzuarbeiten.»
Damit hat Silvan Widmer in Italien ja bereits Erfahrung gesammelt. Und auch ein anderes Problem hat sich im Nati-Camp wie von alleine gelöst: Bei der Zuteilung seines Zimmerpartners gab es keine grosse Diskussion – zusammen mit Benfica-Verteidiger Loris Benito bildet er eine Rookie-WG. Widmer erklärt: «Wir kennen uns seit wir Kinder sind. Wir haben schon zusammen bei den Junioren gespielt und waren in Aarau an derselben Kanti. Nach dem Aufgebot haben wir sofort telefoniert und uns gegenseitig gratuliert. Es ist toll, so einen guten Kollegen in diesem Business zu haben und dieses Erlebnis zu teilen.»
Zusammen wollen die Jugendfreunde unter Petkovic ihre Nati-Karriere lancieren und Druck auf die etablierten Spieler machen – vielleicht dürfen sie das ja schon gegen England, wenigstens einige Minuten lang.