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Marco Chiudinelli im Interview: So lebt es sich in der anderen Tennis-Welt

World number one tennis player Roger Federer of Switzerland, left, and teammate Marco Chiudinelli, right, speak together during the first training session before their Davis Cup World Group Play-offs  ...
Marco Chiudinelli und Roger Federer: Die zwei Jugendfreunde wurden beide Tennisprofi, leb(t)en aber in zwei komplett unterschiedlichen Welten.Bild: KEYSTONE
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Chiudinelli über die andere Tennis-Welt: «In den Top 200 schreibst du schwarze Zahlen»

Bei den ATP-Finals in London spielen die besten Tennis-Spieler der Welt diese Woche um den inoffiziellen WM-Titel und so ganz nebenbei auch um acht Millionen Dollar Preisgeld. Wer hat, dem wird gegeben. Aber wie sieht die Tennis-Welt jenseits der grossen Turniere aus? Marco Chiudinelli hat es uns erzählt.
16.11.2017, 12:1717.11.2017, 05:10
Philipp Reich
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In London kämpfen an den ATP Finals derzeit die acht besten Tennis-Spieler der Saison um den inoffiziellen WM-Titel. Während Roger Federer in der O2-Arena um den nächsten grossen Titel kämpft, spielt auch sein Jugendfreund Marco Chiudinelli professionell Tennis. Drei Wochen nach seinem offiziellen Rücktritt ist die 36-jährige Weltnummer 382 im Interclub für den «Tennis Club de Paris» engagiert. Die Zusage für die französische Meisterschaft für Tennis-Klubs hatte er lange vor dem emotionalen Karriereende beim Heimturnier in Basel gegeben.

watson erreichte Chiudinelli kurz vor seinem Abflug nach Paris am Telefon und sprach mit ihm über die andere Tennis-Welt, diejenige abseits der grossen Turniere. Der Baselbieter erzählt, wie er sich – im Schatten von Federer und Stan Wawrinka – als Einzelkämpfer auf der Tour organisiert hatte, warum er finanziell nie Probleme hatte und warum er es nicht ganz bis an die Spitze geschafft hat.

Chiudinelli mit seinem Interclub-Team in Paris.

Marco Chiudinelli, Sie waren in Basel 2009 im Halbfinal, haben drei Challenger-Turniere gewonnen und waren die Nummer 52 der Welt. Wieso hat es nicht zu mehr gereicht?
Marco Chiudinelli: Natürlich lief nicht alles perfekt von Anfang bis Ende. Ich hatte schon auch das Gefühl, ich hätte mehr herausholen können.

Wir geben zu, die Frage war ein bisschen fies. Von einer solchen Karriere können die meisten nur träumen. Haben Sie trotzdem das Gefühl, es wäre mehr drin gelegen?
Gewisse Sachen hätte ich im Nachhinein sicher anders gemacht, auf gewisse Sachen hatte ich aber auch keinen Einfluss. Ich wurde immer wieder durch Verletzungen zurückgeworfen. Im Grossen und Ganzen bin ich aber happy mit meiner Karriere.

Nach 17 Jahren Profi-Tennis sind Sie in diesem Herbst zurückgetreten. Haben die vielen Verletzungen den Ausschlag gegeben? Sie hätten ja gerne noch weitergespielt.
Nach dem Davis-Cup-Triumph und meiner Ellbogen-Operation 2014 hätte ich eigentlich sagen können: «Ich bin jetzt 33 und höre auf.» Aber ich wollte den Zeitpunkt selber wählen und nicht wegen einer Verletzung zurücktreten. 2016 lief alles super, in diesem Jahr kamen dann aber die Probleme mit dem Körper. Ich konnte fast das ganze Jahr über nicht richtig trainieren, verlor gegen Gegner, die ich hätte schlagen müssen, und fiel im Ranking weit zurück. Selbst bei guter Gesundheit hätte ich nicht mehr die Kraft gehabt, mich mit 36 Jahren noch einmal hochzukämpfen.

Das letzte Spiel der Karriere beim Heimturnier in Basel bestreiten zu können, war aber der perfekte Abschluss Ihrer Karriere ...
Ich habe seit meiner Ellbogen-Operation jeweils nur noch Jahr für Jahr geplant. Weil die Swiss Indoors im Turnierkalender jeweils ganz am Ende der Saison platziert sind, habe ich immer gewusst, dass ich meine Karriere in Basel beenden will, wenn es dann einmal soweit ist. Ich bin froh, dass dies nun geklappt hat und ich so einen schönen Abschluss feiern konnte.

Roger Federer (li) verabschiedet den Schweizer Marco Chiudinelli beim Swiss Indoors Tennisturnier in der St. Jakobshalle in Basel, am Montag, 23. Oktober 2017. (PPR/Kurt Schorrer) *** Local Caption ** ...
Roger Federer weinte bei Chiudinellis Abschied gemeinsam mit seinem alten Kumpel.Bild: PPR

Sie haben in Ihrer Karriere 2'023'620 Dollar Preisgeld gewonnen. Sie sind jetzt also Millionär?
Klar, ich bin Preisgeld-Millionär, das sagt man so schön. Von diesem Geld habe ich das meiste aber wieder ausgegeben. Als Tennis-Profi hast du enorme Fixkosten. Ich hatte zum Beispiel all die Jahre oft auch einen Coach dabei, der mich durchschnittlich 25 Wochen im Jahr begleitete. Das hat seinen Preis. Zu Beginn teilte ich den Coach noch mit einem anderen Spieler. In den letzten vier, fünf Jahren war er aber nur noch für mich zuständig. Allein mit dem Preisgeld hätte ich mir das nicht leisten können. Deshalb hatte ich mehrere Standbeine. Neben dem Preisgeld spielte ich 13 Jahre mit dem Davis-Cup-Team meistens in der Weltgruppe, seit 2004 hatte ich einen Hauptsponsor, der mich unterstützte. Daneben spielte ich auch noch ab und zu Interclub.

Als Spieler, der nicht in den Top 10 rangiert ist, wird einem wohl nicht gerade der rote Teppich ausgerollt. Können Sie all die Kostenpunkte aufzählen, die ein Top-200-Spieler während eines Turniers hat?
Da wäre zunächst einmal der Flug, oft auch noch Umbuchungsgebühren, dann die Reisekosten vor Ort: Zug, Taxi. Bei der Hälfte der Challenger-Turniere gibt es beispielsweise keinen Abholservice vom Flughafen. Dann das Hotelzimmer, auch wenn meist eine gewisse Anzahl an Nächten vom Turnier übernommen werden. Aber du weisst ja im vornherein nie, wie du Abschneiden wirst, wie lange du dort sein wirst. Hinzu kam bei mir die Reise für den Coach, das Hotelzimmer des Coachs, der Lohn des Coachs. Ausserdem die üblichen Ausgaben: Essen, Schläger-Bespannung, Wäschewaschen, Griffbänder, Darmsaiten. Das sind nicht die grössten Posten, aber das summiert sich natürlich alles.

Was war Ihre Haupteinnahme-Quelle?
Das war ganz klar das Preisgeld. In meiner besten Saison habe ich damit gut 300'000 Franken eingenommen. In den letzten Jahren lag ich trotz meinen Verletzungen so etwa bei 100'000 Franken.

Swiss Davis Cup team members, from left to right, Swiss Davis Cup Team captain Severin Luethi, Roger Federer, Marco Chiudinelli, Stanislas Wawrinka and Michael Lammer pose while holding the Davis Cup  ...
Der Gewinn des Davis Cups war Chiudinellis grösster Erfolg: Wie die Siegprämie (zwischen zwei und drei Millionen Franken) unter den Spielern aufgeteilt wurde, ist bis heute ein Geheimnis.Bild: KEYSTONE

Warum spielten Sie Interclub?
Es gibt zwar keine Punkte für die Weltrangliste zu gewinnen, aber du hast ein fixes Einkommen. Du kannst selber wählen, wie viel Zeit du dafür opfern willst. Ich selbst spielte aber nur selten Interclub. Meist in Frankreich und nur Ende Saison, wenn keine ATP-Turniere mehr waren. Ich spielte lieber auf der Tour und bereitete mich dort gut auf die wichtigen Turniere vor. Mit dem Risiko, gar kein Preisgeld zu gewinnen, wenn es schlecht läuft. Aber mit der Möglichkeit, deutlich mehr Geld zu verdienen als im Interclub, wenn du gut spielst. Zudem war es immer mein Anspruch, möglichst viele grosse Turniere zu spielen. Für solche Momente lebt man als Tennisprofi. Der Interclub ist eine schöne Abwechslung, aber nicht der Grund, warum ich Tennisprofi wurde und hatte deshalb nie Priorität.

Bekamen Sie auch finanzielle Unterstützung von Swiss Tennis?
Nein, als Profi erhielt ich keine direkte finanzielle Unterstützung. Aber ich konnte stets die Infrastruktur und den Konditionstrainer nutzen. Als Teenager profitierte ich allerdings enorm. Ich trainierte von 16 bis 20 vier Jahre im Leistungszentrum in Biel, das hat mir den Einstieg ins Profitennis überhaupt erst ermöglicht.

Ab welcher Weltranglisten-Position muss man sich finanziell keine Sorgen mehr machen?
Das ist ziemlich schwierig, das genau zu definieren. Die Situation ist sicher eine ganz andere als noch vor sechs, sieben Jahren, weil die Preisgelder zuletzt enorm gestiegen sind. Wenn du es in die 1. Runde eines Grand-Slam-Turnier schaffst, kriegst du heute gut 50'000 Dollar. Um ohne Qualifikation in die Major-Hauptfelder zu kommen, musst du ungefähr die Weltnummer 105 sein. Früher sagte man, wenn du in den Top 100 bist, kommst du sicher durch und verdienst etwas. Heute kann man sagen: Wenn du in den Top 100 bist, verdienst du sehr, sehr gut. Wenn du in den Top 200 bist, solltest du aber ebenfalls in den schwarzen Zahlen sein. Da kommt es aber sehr auf die jeweiligen Ausgaben an.

ARCHIVBILD ZUM RUECKTRITT VON TENNISSPIELER MARCO CHIUDINELLI --- Marco Chiudinelli of Switzerland celebrates after defeating Yaraslav Shyla of Belarus during the fifth match of the Davis Cup world gr ...
Sein letztes grosses Hurra: Praktisch im Alleingang hielt Chiudinelli die Schweiz im September gegen Weissrussland in der Weltgruppe.Bild: KEYSTONE

Anders als Roger Federer, der mit einer riesigen Entourage um die Welt jettet, hatten Sie also meist nur Ihren Coach dabei?
Als mir 2011 und 2012 mein Rücken viele Probleme bereitete, nahm ich öfters auch noch einen Physiotherapeuten mit. Dann kostet ein Turnier schnell einmal doppelt so viel wie üblich. Das sind aber Investments, die du machen musst. Du darfst nicht jede Woche eine Abrechnung machen und dir sagen: «Mist, ich habe Geld verloren.» Den Kassensturz machte ich stets erst Ende Jahr und wenn ich nicht gut genug gespielt hatte, musste ich die Ausgaben regulieren. Aber ich hatte zum Glück meist gut genug gespielt.

Wie reguliert man die Ausgaben?
Zum Beispiel statt nach Asien fliegen, mit dem Auto nach Frankreich fahren und dort spielen. Oder mit einem anderen Spieler das Zimmer teilen, was ich bis ich etwa 27 war, immer mal wieder gemacht habe.

Sie sagten, Sie hätten meist gut genug gespielt. Was heisst das konkret?
Ich musste nicht ständig ums finanzielle Überleben kämpfen. In den letzten zwölf Jahren konnte ich stets schwarze Zahlen schreiben. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich mir schon lange einen neuen Job suchen müssen. Ich konnte mir während meiner Karriere durchaus etwas auf die Seite legen.

Chiudinelli am Super10Kampf 2017.

Wie viel?
Ich werde Ihnen sicher nicht meinen genauen Kontostand angeben. Aber ich muss jetzt nicht grad nächste Woche einen Job haben, sondern kann mir ein paar Monate Zeit nehmen, um hoffentlich eine neue, spannende Herausforderung zu finden.

Die kleineren Turniere sind nicht gerade in Paris, London oder New York. Sie sind deshalb ziemlich in der Welt herum gekommen. War das ein Vorteil Ihrer Karriere?
Das ist sicher auch ein Grund, weshalb ich meinen Beruf so genossen habe. Mir gefiel das Reisen immer. Ich durfte Orte sehen, die ich sonst höchstens in Dokumentarfilmen kennengelernt hätte. Leider hatte ich nicht immer die Zeit, alles zu sehen, was ich gerne angeschaut hätte. Aber ein gewisser Eindruck bleibt natürlich immer haften.

Chiudinelli im April 2016 in Taipeh (Taiwan).

Sie haben es ganz zu Beginn angesprochen. Sie würden einiges anders machen in Ihrer Karriere. Was genau bereuen Sie?
Ganz am Anfang meiner Karriere glaubte ich nicht, dass ich es ganz nach vorne schaffen kann. Ich hatte zu viel Respekt vor den Topspielern. Deshalb trainierte ich wohl auch nicht konstant auf dem hohen Niveau, das nötig gewesen wäre. Als Teenager bin ich ziemlich unerwartet nach oben gekommen, dank eines Turniersiegs war ich schnell die Nummer 400 der Welt. Danach fehlte mir ein Mentor, den habe ich erst mit 22 gefunden. Bis dahin habe ich wichtige Schritte verpasst. 2010, als ich nach vielen Verletzungen endlich ein gutes Ranking hatte, habe ich dann zu viel gespielt. Endlich konnte ich all die Turniere spielen, von denen ich schon immer geträumt hatte. Darunter litt jedoch das Training und die Erholung, was mich im Herbst teuer zu stehen kam. Ich verletzte mich in Tokio während eines Spiels am Rücken und konnte daraufhin während einem halben Jahr kaum spielen. Dies kostete mich damals meinen Platz in den Top 100.

Wie geht's nun weiter? Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Einen konkreten Plan, was ich in Zukunft genau machen werde, habe ich noch nicht. Aber ich kümmere mich seit ein paar Wochen aktiv darum, etwas Neues zu finden, was mich ebenfalls herausfordert und mir Freude macht. Dies muss nicht zwingend im Tennis sein, mich interessieren vor allem auch die Themen Event- und Sportmanagement.

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