Eigentlich hätten die Engländer gewarnt sein müssen. Die im Selbstverständnis grösste Seefahrernation aller Zeiten hat nämlich gegen das militärisch praktisch wehrlose Island, das keine Armee und keine Kriegsflotte unterhält, drei «Kabeljaukriege» verloren.
Ab 1952 hat Island die Schutzzone vor seiner Küste für seine Fischerei nach und nach von drei auf 200 Seemeilen ausgedehnt – in erster Linie gegen britischen Widerstand. Die Engländer schickten Fischereiboote unter dem Schutz von Kriegsschiffen in die isländischen Küstenregionen. Dabei kam es zuletzt im Januar 1976 zu einem gut dokumentierten Zwischenfall.
Das Patrouillenboot «Thor» der isländischen Küstenwache rammte 35 Seemeilen vor der Küste keck das britische Kriegsschiff «Andromeda». Der Konflikt wurde auf dem Verhandlungsweg beigelegt, und seit dem 2. Juni 1976 akzeptiert die britische Regierung die 200-Seemeilen-Zone. Ein schier unglaublicher Erfolg der Isländer gegen die britische Seemacht.
Und nun also 40 Jahre später der Sieg im Fussball. Englands Pleite gegen Island ist nicht nur eine sportliche Weltsensation. Es ist auch eine schier unfassbare Niederlage für die Macht des Geldes. Eine noch grössere Sensation als die britische Niederlage im «Kabeljaukrieg».
Denn Englands Fussball müsste nach den Gesetzen des Sport-Kapitalismus die Welt beherrschen wie einst die britische Flotte die Weltmeere. Ganz im Sinne des Refrains der inoffiziellen Hymne («Rule, Britannia!»), der durchaus für das Selbstverständnis des englischen Fussballs stehen kann. Englands Fussball ist der traditionsreichste der Welt und seit 1888 gibt es eine Profiliga.
«Rule, Britannia! Britannia rule the waves; Britons never will be slaves.»
«Herrsche, Britannia! Britannia beherrsche die Wellen; Briten werden niemals Sklaven sein.»
Keine andere Fussballkultur der Welt wird mit so viel Geld gedüngt wie die englische. Die «Premier League» kassiert ab 2016 mit einem neuen Dreijahresvertrag rund 10,5 Milliarden Franken TV-Einnahmen – pro Saison. Zum Vergleich: Die deutsche Bundesliga muss sich mit insgesamt 835 Millionen begnügen. In der helvetischen Super League bekommen die Klubs als Basis-Entschädigung aus dem TV-Vertrag rund 0,7 Millionen Franken.
Die «Premier League» gilt als die «grösste Show der Erde» («the greatest show on earth») und ist mit über einer Milliarde TV-Zuschauern die meistbeachtete Sportliga der Welt. Die Spiele werden weltweit in insgesamt 195 Ländern übertragen.
Die 20 Klubs der Premiere League gehören alle zu den 40 reichsten Klubs auf dem Globus. Die 16 umsatzstärksten Fussballunternehmen der Welt spielen in der höchsten englischen Liga. Der Absteiger (81 Millionen) verdient mehr als doppelt so viel an TV-Geldern wie Deutschlands Rekordmeister Bayern München (39 Millionen). Die Spiele in der Premiere League wollen im Schnitt mehr als 30'000 Fans sehen. In Island kommen im Schnitt nicht einmal 1500 Fans zu den Partien der heimischen Liga.
So gesehen scheint es unmöglich, dass England gegen Island verlieren kann. Wie kann es sein, dass der Zwerg Island den Titanen England besiegt?
Tatsächlich kann ein wirtschaftlicher Zwerg einen Dauerwettbewerb (Meisterschaft, Champions League) nicht mehr gewinnen. Selbst Leicester gilt in diesem Sinne nicht als Zwerg. Für den Triumph in einem Dauerwettbewerb braucht es einen qualitativ so guten und breiten Kader, dass sich das grosse Geld durchsetzt. Geld schiesst Tore. In der Schweiz (FC Basel) und in Deutschland (Bayern München) dominieren die wirtschaftlich stärksten Fussballunternehmen inzwischen nach Belieben.
England hätte die Möglichkeit, mit den Milliardeneinnahmen seinen Fussball sportlich weiterzuentwickeln. Durch nachhaltige Investitionen in die Rekrutierung und Ausbildung junger Spieler. Dann wäre England eine der erfolgreichsten Fussball-Nationen überhaupt.
Aber viel Geld macht den Fussball nicht automatisch qualitativ besser. Weil Mehreinnahmen im Fussball primär in die Löhne investiert werden. Es ist möglich, die besten Spieler aus der ganzen Welt «einzukaufen». Aber die eigenen Spieler werden so nicht besser. Geist kann gegen Geld sogar im 21. Jahrhundert im Milliarden-Business Fussball gewinnen.
Das grosse Geld hat Englands Nationalmannschaft international nicht konkurrenzfähiger gemacht. Der letzte Titelgewinn liegt jetzt genau 50 Jahre zurück: 1966 hat England die WM im eigenen Land gewonnen. Es ist seit den Olympiasiegen von 1900, 1908 und 1912 der einzige Triumph bei einem Titelturnier (WM, EM, Olympia).
Das 1:2 gegen Island ist viel schlimmer als das 0:1 gegen die USA bei der ersten WM-Teilnahme 1950 und auch bitterer als die erste Heimniederlage gegen ein Team vom Kontinent am 25. November 1953 (3:6 gegen Ungarn). Bis zu diesem Tag hatten die Briten stolz gesagt: «Seit der Schlacht von Hastings 1066 unbesiegt gegen die Konkurrenz vom Kontinent.»
Und nun 1:2 gegen Island. Die schlimmste Niederlage der englischen Sportgeschichte.
Nein, jetzt ernsthaft England steht mittlerweile als Synonym fürs Versagen. Hat nichts mit Geld oder PL zu tun, sondern einfach mit Engländer so an sich.
Ich habe in meinen Kopf irgendwie immer dieses Bild des enttäuschten verlierenden kopfsenkenden Engländers, der es vergeigt hat: Sei es nun Terry, Gerrard, Beckham oder Rooney, im Fussball, im Rugby oder im Cricket, England verliert immer.