Es ist noch nicht lange her, da sprachen Sportler frei das aus, was sie dachten. Heute absolvieren sie schon im jungen Alter Medienkurse. Sie lassen sich auf Initiative ihrer Klubs oder Verbände von Journalisten darin schulen, was sie am besten sagen, um möglichst wenig zu sagen. Die gleichen Journalisten ärgern sich dann darüber, dass es keine knackigen Aussagen mehr gibt. Sondern dass ein Spieler nach seinem Hattrick sagt, es sei egal, wer die Tore mache, solange das Team gewinne.
Was war das für eine Gaudi, wenn Bayern München verloren hatte, vielleicht sogar nach umstrittenen Entscheiden, und die Reporter Lothar Matthäus vors Mikrofon zerrten. Was grinsen wir noch heute darüber, wenn wir an YBs Carlos Varela denken, wie er im Kabinengang den Baslern zuruft: «Heb dä Schlitte, du Schiissdreck!» Und wie legendär ist denn der Ausraster von Bundestrainer Rudi Völler bei «Weissbier-Waldi» Waldemar Hartmann nach einem 0:0 auf Island?
Heute können wir den TV abschalten, wenn der Schiedsrichter die Partie abgepfiffen hat. Denn die Typen, die mehr von sich geben als bloss die immer gleichen Plattitüden, gibt es fast nicht mehr. Und tut es einer doch, so wird er gleich gnadenlos abgewatscht. Beispiel: Fussball-Weltmeister Thomas Müller hinterfragt den Sinn einer Partie wie Deutschland gegen San Marino. Prompt tobt ein Shitstorm. Dieser lässt Müller glücklicherweise kalt: «Ich werde auch in Zukunft meine Meinung klar äussern, auch wenn ich Gefahr laufe, dass es mir um die Ohren fliegt.» Eine Einstellung, die leider selten geworden ist.
Es sind nicht die Sportler, welche die Regeln geändert haben. Es ist die Gesellschaft, in der zwar jeder besonders sein will, aber in der dann auf jeden mit dem Finger gezeigt wird, der tatsächlich ein wenig besonders ist. Gefragt ist grauer Durchschnitt, das Nichtauffallen um jeden Preis. Immer muss alles möglichst korrekt sein. Was sollen denn bloss die Nachbarn denken?
Sonnenklar deshalb, dass Leverkusens Trainer Roger Schmidt für zwei Spiele gesperrt wurde. Er hatte den Hoffenheimer Coach Julian Nagelsmann einen «Spinner» genannt und ihn angewiesen, die Schnauze zu halten. Eine unfassbare Entgleisung. Das geht doch nicht! Stichwort: Vorbildfunktion!
Die Stimmen, welche die Überzogenheit einer solchen Bestrafung kritisierten, waren weniger zahlreich. Dabei ist es wahrlich kein neues Phänomen, wenn im Eifer des Gefechts ein Trainer dem anderen «Heb dä Latz!» zuruft. Neuer ist bloss die Tatsache, dass das Fernsehen Mikrofone aufstellt und sich diebisch darüber freut, wenn einer in die Falle tappt und der Lauschangriff erfolgreich ausgeschlachtet werden kann.
Plötzlich hat man ein wenig Verständnis für den Versuch von Sportlern und Klubs, die Hoheit über ihre Medieninhalte zu haben. Erst kürzlich haben einige der grössten Fussballklubs eine gemeinsame Plattform lanciert, auf der Social-Media-Inhalte geteilt werden. «Dugout» ist die Konkurrenz zu Facebook. Dass dort, wie auf Instagram, Snapchat und Twitter nur die heile Welt gezeigt wird, liegt auf der Hand. Ein guter Ruf ist alles, denn ein guter Ruf verspricht Geld.
Es gibt nur wenige Sportler, die sich um ihr Image foutieren – oder die sich gerade deshalb so aufführen, weil man es von ihnen erwartet. Zlatan Ibrahimovic ist so einer. Kein Interview des schwedischen Fussballers, das keine Schlagzeilen generiert. Aber er kann sich die Grossmäuligkeit nur deshalb leisten, weil er auf dem Platz stets Tor um Tor erzielt. Ein Renato Steffen könnte sich niemals erlauben, so aufzutreten wie Cristiano Ronaldo. Das geht nur dann, wenn die sportliche Leistung stimmt. Auch Muhammad Alis grosse Klappe wäre längst vergessen, hätte er in seinen Boxkämpfen nicht WM-Titel geholt, sondern auf die Mütze gekriegt.
Junge, aufstrebende Sportler können sich solche Aussagen kaum mehr leisten. Einerseits werden sie nach zwei, drei schwachen Spielen gleich von Medien und Fans vernichtet: «Der soll sich besser auf sein Spiel konzentrieren und nicht immer nur prahlen», heisst es dann. Andererseits bergen kritische Aussagen und ein nonkonformes Auftreten die Gefahr, dass sich Sponsoren zurückziehen. Weil das keiner riskieren will, gilt: im Zweifelsfall die Klappe halten.
Erst wenn sich der Erfolg regelmässig einstellt, wird ein extravagantes Verhalten salonfähig. Rad-Weltmeister Peter Sagan ist eine coole Socke. Aber man nimmt ihn trotzdem ernst, weil er von Frühling bis Herbst fast bei jedem Rennen um den Sieg fährt.
I think this is appropriate for the @UCI_cycling Gala pic.twitter.com/yTO9A8YZog
— Peter Sagan (@petosagan) 18. Oktober 2016
Der norwegische Langläufer Petter Northug baute betrunken einen Autounfall und legt sich immer wieder mit den Verbänden an. Dennoch ist er das Idol der Massen, weil er im entscheidenden Moment bereit ist und Gold gewinnt. Formel-1-Youngster Max Verstappen begeistert durch eine draufgängerische Fahrweise und ein loses Mundwerk. «Endlich wieder einer wie früher!», jubeln Motorsportfans; einer, über den gestritten werden kann. Derweil gilt der neue Weltmeister Nico Rosberg als fleissiger Arbeiter, der nicht geliebt, sondern höchstens respektiert wird.
Ibrahimovic, Sagan, Northug oder Verstappen: Sie sind die letzten ihrer Art und das ist schade. Denn Sport besteht nicht bloss aus Hundertstelsekunden, Zentimetern und der Anzahl Tore. Sport ist, mehr als jemals zuvor, Unterhaltung. Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet in der Entertainment-Epoche, in der wir uns befinden, das Unangepasste keinen Platz mehr zu haben scheint.