Praktisch seit ich denken kann, spiele ich Fussball. Das sind mittlerweile über 30 Jahre. Was ich dabei – auf Amateur-Niveau muss ich zugeben – am meisten hasse: Diven, Eigenbrötler, Stürmer-die-nie-in-die-eigene-Hälfte-kommen-aber-alles-besser-wissen, Spieler-die-meinen-dass-sie-nur-weil-sie-das-gleiche-Haargel-wie-CR7-benutzen-auch-(mindestens)-gleich-gut-spielen-wie-er. Kurz: Typen wie Mario Balotelli.
Spätestens seit seiner Show im EM-Halbfinal 2012 gegen Deutschland und der Muskelmann-Pose kennt den Stürmer die ganze Welt.
Nach der EM 2012 hatte der als Kind von einer italienischen Familie adoptierte Stürmer noch zwei sehr gute Jahre bei Milan. Bei den «Rossoneri» glänzte er mit einer Quote von 26 Treffern in 43 Partien. Daneben lief «Super Mario» insgesamt 33-mal für die Squadra Azzurra auf und erzielte dabei 13 Tore.
Aber was Balotelli fast noch mehr begleitete, waren seine Eskapaden neben dem Platz. Extravagante Frisuren, 27 Mal einen abgeschleppten Maserati («Daily Mail») oder einfach nur gute Sprüche wie, damals, als er gefragt wurde, ob er mal für Barcelona spielen wolle: «Nein, ich spiele nicht Fussball mit Mädchen» – bei «Super Mario» gab es nichts, was es nicht gab.
Ein anderer Spruch war: «Ich bin intelligenter als die Norm, nur kann ich es nicht beweisen.» Er sagt's und macht dann Sachen wie im Dezember 2012, als er ein Taxi für 1000 Euro von Manchester nach London vor sich her fahren lässt, nur weil er den Weg nicht kennt. Und während seiner Zeit bei Liverpool wird Balotelli – der während seiner Karriere und selbst in Italiens Nationalmannschaft so oft von primitivstem Rassismus betroffen war – einmal für einen Instagram-Post mit 25'000 Pfund gebüsst. Grund: Er war rassistisch.
Der hochtalentierte Angreifer fiel immer tiefer. Die Leistungen bei Liverpool waren derart unterirdisch, dass die «Reds»-Fans einen Gesang auf ihn texteten – der aus Spott zum Ende bei fast jedem gelungenen Pass des Italieners zelebriert wurde: «Mario fantastico, Mario magnifico, olé olé, olé olé!»
Doch es gibt auch den anderen Mario Balotelli. Derjenige, der für Andrea Pirlo einst am Piano die italienische Hymne spielte oder der sich mit einem handgeschriebenen Brief von Steven Gerrard verabschiedete. Oder dann postete er auf Instagram ein Video, wie er bügelt und ein Buch liest. Natürlich mit nacktem Oberkörper und tanzend.
Kurz Mario Balotelli war irgendwie das, was im Fussball von vielen zwar oft kritisiert, aber eben auch vermisst wird: Ein echter Typ. Einer, der all die unzähligen Medienschulungen für aufstrebende Talente irgendwie verpasste. Einer, der einfach frei von der Leber spricht.
Nicht wie beispielsweise St.Gallens neuer Held Albian Ajeti, der nach dem Kellerduell gegen Thun hinsteht und erklärt, dass er nur dank seinen Teamkollegen den wichtigen Siegestreffer erzielen konnte. Ajeti ist 19 und hört sich bereits wie ein 35-jähriger Routinier an. Einfach so auswechselbar. Einer wie alle anderen.
Aber zurück zu Balotelli: Lucien Favre gab dem Exzentriker eine letzte Chance bei Nice. Der Präsident meinte, es sei ein Risiko. Der Bad Boy widersprach: «Ich bin kein Risiko.» Und bisher hat er recht. Zur Begrüssung beschenkt er seine Teamkollegen mit Designer-Klamotten und anderen Accessoires im Wert von 15'000 Euro. Beim Debüt gegen Marseille trifft er doppelt. Das erste Tor erzielt er vom Penaltypunkt aus – trotz übler Provokation eines Gegenspielers.
Und dann jubelt er so, wie nur er jubeln kann: Er steht emotionslos einfach still und streckt die Arme aus. Bei den weiteren drei Treffern für seinen neuen Arbeitgeber freut er sich noch weniger. Einst sagte der 26-Jährige: «Wenn ich treffe, juble ich nicht, denn ich mache nur meinen Job. Jubelt etwa ein Briefträger, wenn er einen Brief einwirft?»
Gestern Abend bei seinem 3:0 gegen Monaco macht Balotelli immerhin einige Schritte auf die Fankurve zu und verbeugt sich vor den Fans. In der 78. Minute wird er vorzeitig ausgewechselt, gefeiert wie ein Erlöser. Die Fans lieben ihn schon. Nizza träumt nach dem besten Saisonstart seit 1977/78 vom Titel. Und das «Enfant terrible» bedankt sich auf Instagram artig: «Danke dem Team, danke euch Fans, danke Nizza. Das ist nur der Anfang.»
Gestern erwische ich mich dabei, wie ich lieber Nizza – Monaco im TV schaue als Schweizer Fussball oder die Bundesliga-Konferenz. Nur wegen Balotelli. Gibt es einen anderen Spieler, der mich dazu verleitet eine Gurkenliga zu schauen? Früher war das mal Ronaldinho beim PSG und Jay-Jay Okocha liess mich einst kurzzeitig Fan von Eintracht Frankfurt werden. Die heutigen Stars? Nein, leider nicht. Vielleicht Ibrahimovic. Vielleicht CR7. Aber beide nur mit Abstrichen.
Spieler wie Mario Balotelli. Im Amateurfussball sind sie für mich der Inbegriff des Idioten, den ich nie in meinem Team haben will. Im kommerzialisierten Profigeschäft kann ich nur eines sagen: Es müsste noch sooo viel mehr Balotellis geben.
Ich habe gar mal kurz nachgeschaut, wie man von Zürich nach Nizza kommt. Mit dem Auto sind's 6:30 Stunden, der Flug dauert eine Stunde und kostet rund 200 Franken. Ich glaube, ich muss meiner Frau mal ein verlängertes Wochenende im Spätherbst an der dann noch milden Côte d'Azur vorschlagen.