Sommer 2016: Claudio Ranieri ist der neue König. Sein Thron ist das King Power Stadium in Leicester, sein Reich ganz England. Zu Füssen liegt ihm die ganze Welt.
Das ist 297 Tage her. Eine Ewigkeit im Fussball. Gestern Abend wurde er entlassen. Und ich sitze da und bin total konsterniert. Ich kenne zwar die Mechanismen im modernen Fussball und denke trotzdem: Wie kann man nur? DAS DARF MAN DOCH NICHT! Oder um es mit den Worten von Jamie Carragher zu sagen:
Absolute Joke. https://t.co/TdKVeR1nJN
— Jamie Carragher (@Carra23) 23. Februar 2017
Ranieri hat das geschafft, was völlig undenkbar war: Er ist mit Leicester englischer Meister 2016 geworden. Vor der Meistersaison war es gemäss Wettquote von 5000:1 gleich unwahrscheinlich, dass jemand den Yeti findet. Oder Nessie. Oder dass der wärmste Tag des Jahres in England an Weihnachten ist. Will heissen: Was Ranieri schaffte, war unmöglich. Es war – und wird es wohl immer bleiben – der grösste Erfolg in der 133-jährigen Klub-Geschichte.
Doch das ist neun Monate her. Neun Monate können einem im modernen Fussball gleich lang vorkommen wie 133 Jahre. Es kann viel geschehen und vor allem sehr viel vergessen gehen. Vor allem, wenn du zu oft verlierst. So wie Ranieri mit den «Foxes». 2017 gab es für den Italiener nur einen Sieg: Die Wahl zum FIFA-Trainer des Jahres. Auf dem Platz resultierten in diesem Jahr fünf Pleiten, ein 0:0 und noch kein einziges Tor in der Liga. Der englische Meister liegt nur noch einen Punkt vor den Abstiegsrängen.
Gut flatterte vor gut drei Wochen ein Schreiben aus Thailand in den Midlands ein: «Unerschütterliche Rückendeckung» stand da. Und schöne Worte wie «Der beispiellose Erfolg der letzten Saison basiert auf Stabilität, Zusammenhalt, und Entschlossenheit, um auch die grössten Herausforderungen zu meistern.» Dass solche Bekenntnisse im Fussball auch «Kiss of Death» genannt werden, rückte in den Hintergrund. Denn was Ranieri mit Leicester vollbrachte, war ja wirklich speziell.
Es folgten weitere Pleiten, aber immerhin «nur» ein 1:2 in Sevilla im Hinspiel der CL-Achtelfinals. Die Hoffnung auf ein Weiterkommen und auf eine Wende blieb. Gestern kam aber wieder ein Schreiben aus Thailand. «Es war die schwierigste Entscheidung, die wir in den sieben Jahren bei Leicester treffen mussten. Aber wir müssen die Klubinteressen vor die persönlichen Empfindungen stellen», schrieb der Vize-Chef Aiyawatt Srivaddhanaprabha.
Der Brief drei Wochen zuvor war wohl falsch adressiert.
Falls er die Worte wirklich so schrieb – und nicht irgendein Assistent in seinem Namen verfassen musste – dann möchte ich dem Herrn Srivaddhanaprabha sagen: «Halt die Fresse!»
Wie kann man einen Trainer feuern, der das grösste Märchen der Fussballgeschichte realisierte?! Man hätte ihm im letzten Sommer sagen müssen: «Hör zu, wir bauen dir jetzt eine Statue. Du kannst hier Trainer bleiben, solange du willst. Der Einzige, der entscheidet, wann es endet, bist du selbst.» Vermutlich hätte Ranieri die Grösse gehabt, von sich aus zu gehen, wäre sein Team ans Tabellenende gefallen.
Klar, Leicester schwebt in Abstiegsgefahr. Aber sie liegen nicht mal auf einem Relegationsplatz. Eigentlich hätte der Klub Ranieri aus Dankbarkeit nicht mal bei einem Abstieg entlassen dürfen. Wegen «Stabilität, Zusammenhalt und Entschlossenheit, die auch über die grössten Hürden helfen». Blablabla.
Aber das geht im modernen Fussball nicht mehr. Das ist mir auch klar. Drei andere Kellerkinder Englands wechselten die Trainer – und weisen Aufwärtstendenz auf. Ein Abstieg – insbesondere aus der Premier League – muss um alles in der Welt verhindert werden. Das kostet rund 125 Millionen Franken, Spieler werden den Klub verlassen wie die Ratten das sinkende Schiff. Und die Beispiele von Nottingham Forest, Leeds United, Blackburn Rovers oder von mir aus auch Aston Villa zeigen: Der Weg zurück ist unglaublich steinig und schwer.
Es geht um zu viel Geld. Wir sind nicht mehr in den 1970er Jahren, als ein Abstieg finanziell praktisch keine Auswirkungen hatte. Damals konnte Manchester United mal absteigen (1974) und kam im nächsten Jahr wieder rauf. Als wäre nichts geschehen. Heute verlierst du als englischer Klub bei einer Relegation nur schon so viele Twitter-Follower aus Asien, dass damit Millionen von Einnahmen verloren gehen.
Logisch, Ranieri machte in dieser Saison Fehler. Darum sind jetzt auch nicht alle Fans masslos enttäuscht. Einer sieht in den Kommentarspalten des «Leicester Mercury» gar das Positive und schreibt: «Erinnert ihr euch, als wir alle am Boden waren, weil Pearson entlassen wurde und Ranieri kam? Dann hätte es das Titelmärchen gar nie gegeben. Vielleicht versuchen wir einfach den gleichen Trick zu wiederholen.»
Die Aufregung über die Entlassung des Meistermachers wird bald wieder vergessen sein. Auch 2017 ist niemand grösser als ein Klub. Und wir sollten nicht nur dem modernen Fussball die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Schon im Mittelalter wusste das Volk: «Der König ist tot, lang lebe der König!»
After all that Claudio Ranieri has done for Leicester City, to sack him now is inexplicable, unforgivable and gut-wrenchingly sad.
— Gary Lineker (@GaryLineker) 23. Februar 2017
Wayne Shaw sacked for eating a pie.
— Piers Morgan (@piersmorgan) 23. Februar 2017
Claudio Ranieri sacked for winning the Premier League.
This is the week football ate itself.
Just seen Ranieri news. Shocked after last night display! Wins the league & still not afforded the time to fight for safety. Unreal scenes!
— Rio Ferdinand (@rioferdy5) 23. Februar 2017
Sums up the way football is going
— Philip Neville (@fizzer18) 23. Februar 2017
It's an outrage that Ranieri has been sacked! Crazy decision
— James Corden (@JKCorden) 23. Februar 2017
The last two managers to win the Premier League haven't lasted the following season. Unbelievable. Antonio Conte beware...
— Glenn Price (@GlennPrice94) 23. Februar 2017
Last season - & Ranieri's role in it - will never be forgotten, but Leicester need to live in the present. They were Championship-bound
— Liam Twomey (@liam_twomey) 23. Februar 2017