Beim Betreten des Letzigrunds am Dienstagmorgen zeigt sich das erste Mal, dass Leichtathletik eben weder Fussball noch Eishockey ist. Wenig Zuschauer, vereinzelt ein bisschen Applaus, ansonsten nichts los im Leichtathletik-Stadion von Zürich. Doch dann folgt auch schon der Auftritt einer jungen Bernerin, die den Organisatoren noch viel Freude bereiten wird.
Um 11.42 Uhr startet der erste Lauf der 100-Meter-Qualifikation der Frauen. Mit am Start Mujinga Kambundji, welche mit einem neuen Schweizer Rekord kurz vor der EM Aufsehen erregte. Und ihre Form hält an. 11.32 Sekunden, wieder neuer Schweizer Rekord. Zum ersten Mal so etwas wie Stimmung im Stadion, welches nur bis zu rund einem Viertel gefüllt ist.
Weit weniger rote Stühle sind am nächsten Abend zu sehen. Der Halbfinal und der Final von Kambundji stehen an. Nach dem hoffnungsvollen Vorlauf will man diese als Schweizer auf keinen Fall verpassen. Die Menschen sind verzaubert von der fröhlichen Schweizerin, welche nur während den 100 Metern – und wenn sie den Stab fallen lässt – kein Lachen im Gesicht hat. Gefüllt ist der Letzi zwar nicht, aber weit voller als bei den bisherigen Heimspielen der Grasshoppers, was bei meinen GC-Freunden schon einmal auf Unverständnis stösst: «Es git scho komischi Mänsche», schreibt einer verärgert.
Die EM in Zürich ist plötzlich ein Thema, sofern man mitbekommt, was abgeht. Auch ich bin verzaubert und will die Freude über den vierten Rang von Kambundji mit meinen Kollegen teilen. Diese fragen nur: «Eine Schweizerin in einem 100-Meter-Final? Krass!» Der Funke der EM ist also doch nicht wie erwartet über die Ränge des Letzigrunds hinausgesprungen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Doch vorerst arbeiten die Organisatoren fleissig daran, die gewonnenen Sympathien schnell wieder zu verlieren. Zuerst lassen sie aufgrund eines Messfehlers die deutsche Weitspringerin Melanie Bauschke im Glauben, auf dem Bronze-Platz zu liegen, was sich noch vor dem letzten Sprung als Irrtum herausstellt und eine junge Athletin ins Elend stösst. Später nehmen sie dem französischen Steeple-Läufer Mahiedine Mekhissi-Benabbad die Goldmedaille wieder weg, weil er sich in der Hitze des Gefechts in Fussballer-Manier über den klaren Sieg freut. Der grösste Sportevent des Jahres erreicht mit zwei vermeidbaren Entscheidungen einen Tiefpunkt.
So ist am Freitag die Erleichterung bis in die obersten Ränge bei den Medienschaffenden zu spüren, als aus heimischer Sicht der Sport wieder für Schlagzeilen sorgt, als Hürdensprinter Kariem Hussein Schweizer Sportgeschichte schreibt und mit dem Willen eines Bullen zu Gold spurtet. Der Letzi tobt! Ja, er tobt. Voll ist er nicht, aber er tobt. Gefolgt vom emotionalsten Moment der ganzen EM: die Schweizer Hymne ertönt. Und der harte Hussein vergiesst Tränen. Tränen, die anstecken.
Und plötzlich ist der Funke auch ausserhalb der rostigen Fassade des Letzigrunds angekommen. Beim Feierabend-Bier werde ich von meinen Freunden mit Hussein-Rufen begrüsst. Auf sozialen Netzwerken freut man sich über den Erfolg. Die Schweiz ist doch noch im EM-Fieber. Zumindest für einen kurzen, magischen Augenblick.
Der Beweis, dass die Leichtathletik in dieser Woche viele Sympathien gewonnen hat, folgt gleich am Wochenende. Schon am Samstag finden sich weit mehr Fans ein als zuvor. Man will dabei sein, wenn Kambundji das letzte Ziel in Angriff nimmt und mit der Staffel die Medaillen anstrebt.
Nur will es das Schicksal anders. Die Geschichte ist bekannt und hoffentlich schon bald wieder vergessen. Doch trotzdem feiern die Zuschauer am Tag, als die sonst immer so fröhliche Kambundji den Stab fallen lässt, ihre Lieblinge noch einmal überschwänglich. Man hat die Athletinnen zu lieben begonnen. Dem Sonnenschein Mujinga Kambundji sei Dank.