In der guten alten Zeit waren Ausreden für die Schweizer wohlfeil. Das einzige Hindernis auf dem Weg zum Ruhm war die Technik. Die Unterschiede zwischen den Höllenmaschinen waren ja erheblich und nur ganz wenige Schweizer (wie Luigi Taveri, Stefan Dörflinger, Bruno Kneubühler und Jacques Cornu) hatten die technischen Voraussetzungen, um Rennen zu gewinnen. Es war ein bisschen einfacher, ein Held zu sein.
Wenn wir jetzt vor dem GP von Holland in Assen erstmals Saison-Bilanz ziehen, hat die Technik nur noch eine untergeordnete Bedeutung. In der Moto2-WM haben alle den gleichen Töff. Die technischen Unterschiede sind minim. In der zweitwichtigsten WM machen mehr denn je die «weichen» Faktoren den Unterschied. Die beinahe vergessene Sensibilität der Gladiatoren wird zum Mittelpunkt jeder Analyse; Psychologen, Freunde und Freundinnen können so wichtig sein wie Ingenieure. Bloss spricht in der Macho-Welt des Töffsports kaum jemand darüber. Alle sind auf die Technik fixiert.
Der Franzose Johann Zarco ist ein typisches Beispiel für die empfindliche Seele der Asphalt-Cowboys. Er dominiert auf einmal die Moto2-WM. Dahinter steckt kein technisches Wunder. Es ist etwas ganz anderes. Zarco hat sich im Winter endlich von seinem dominanten Manager emanzipiert, eine eigene Wohnung gesucht und eine Freundin gefunden. Alles Kopfsache.
Wir sind nun in Assen angelangt. Nach sieben Rennen ist ein erstes Urteil über unser «Dreamteam» mit Tom Lüthi (28) und Dominique Aegerter (24), über das interessanteste Experiment der Schweizer Töffgeschichte möglich. Dominique Aegerter hat Monate gebraucht, um mit der Präsenz seines Idols im eigenen Team fertig zu werden. Bei den Tests fuhr er hinterher. Die fünf ersten Rennen (15., 18., 13., 16. und 10.) waren Aegerters schwächste seit seinem Einstieg in die Moto2-WM.
Tom Lüthi war in der ersten Saisonphase (Ränge 3, 12, 6, 4 und 1) die klare Nummer 1 im Team. Erst seit dem sechsten Rennen fährt Dominique Aegerter wieder auf Augenhöhe mit seinem Teamkollegen und in Mugello führten die beiden vorübergehend das Rennen an. Zwei Schweizer auf den ersten beiden Plätzen in einem Rennen der zweitwichtigsten Kategorie – das hatte es so noch nie gegeben.
Cheftechniker Gilles Bigot hat nicht an Dominique Aegerters Feuerstuhl «herumgedoktert». Die Wende hat nicht die Technik gebracht. Sondern ein Trick. Ein bisschen «Voodoo». Teamchef Fred Corminboeuf hatte die Probleme von Dominique Aegerter früh erkannt und seinem Fahrer schon im Winter ans Herz gelegt, mit einem Mentaltrainer zu arbeiten. Doch davon will Aegerter nichts wissen. Einem Rennfahrer fehlt es nicht im Kopf. Basta.
Damit sind wir beim Trick seines Chefs, der bei der Krisenlösung eine zentrale Rolle spielt. Mitte Mai hat Fred Corminboeuf den Franzosen Frédéric Petit als Riding Coach («Fahrlehrer») verpflichtet. Kein Wort von einem Mentaltrainer – Riding Coaches haben viele Piloten. Da fällt in der Macho-Welt Töff keinem ein Zacken aus der Krone. Der ehemalige Privatfahrer Petit ist hier in Assen bereits zum vierten Mal vor Ort im Einsatz.
Es ist kaum Zufall, dass sich Dominique Aegerter seit der Zusammenarbeit mit dem Franzosen langsam seiner Bestform nähert. Frédéric Petit sagt: «Eigentlich bin ich mehr Mentaltrainer. Aber diese Bezeichnung ist tabu. Keiner gibt zu, dass er Hilfe für den Kopf braucht.»
Benötigt denn der coole «Rohrbach-Rock'n'Roller» überhaupt psychologische Betreung? «Ja», sagt Petit. «Dass er am Anfang der Saison so grosse Mühe hatte, und dass er in der zweiten Rennhälfte nach wie vor meistens zurückfällt, ist eine reine Kopfsache und hat nichts mit der Einstellung der Maschine zu tun. Dominique ist ja topfit. Aber er atmet nicht richtig, verkrampft sich und dadurch ermüden die Muskeln. Das führt dazu, dass er mit der Maschine statt mit den Gegnern kämpft. Er will zu viel und muss lernen, sich zu entspannen und ruhiger zu werden.»
Diese Probleme seien lösbar. Dominique Aegerter sei wie ein ungeschliffener Diamant: Enorm talentiert und motiviert. Der Berner könne noch viel, viel besser werden. Das sind doch gute Aussichten für einen, der letzte Saison bereits einen GP gewonnen hat und diese Saison im vorletzten wieder auf dem Podest stand (als Dritter in Mugello).
Wir können uns bereits mit einer überaus interessanten Frage für die zweite Saisonhälfte befassen: Wie wird Tom Lüthi reagieren, wenn sein Teamkollege konstant auf Augenhöhe fährt? Seit seinem Einstieg in den GP-Zirkus (2002) ist der Weltmeister von 2005 noch nie dauerhaft von einem Schweizer herausgefordert worden. Lüthi sagt, sein Selbstvertrauen sei intakt und das sei kein Problem. Aber in Mugello ist er an der Spitze fahrend gestürzt, in Barcelona reichte es noch zu Rang 6 und in Assen ist er nach dem ersten Trainingstag als 11. hinter Dominique Aegerter klassiert (7.). Arbeit für die Psychologen, nicht für die Techniker?
Definitiv einen Psychologen braucht Randy Krummenacher (24). Er ist so talentiert wie Tom Lüthi und Dominique Aegerter – aber mental zerbrechlich wie billiges Plastikspielzeug. Krummenacher ist diese Saison noch nicht über einen 12. Platz hinausgekommen, nach dem ersten Trainingstag in Assen ist er 16. Die Uhr tickt: Gelingen dem Zürcher in den nächsten Rennen keine Spitzenresultate, ist seine GP-Karriere im Herbst zu Ende.