Eigentlich ist es die Stunde des Triumphes. Martin Rios (36) und Jenny Perret (26) haben die erste Medaille für die Schweiz gewonnen! Silber! Der Glarner und die Bernerin haben erreicht, wovon Milliarden Menschen nicht einmal zu träumen wagen. Eine olympische Medaille!
DIE ERSTE MEDAILLE IST DA! Jenny Perret und Martin Rios gewinnen Silber im Curling - BRAVO! #Allin4PyeongChang #TeamSUI pic.twitter.com/5IQkXqoTHx
— Swiss Olympic Team (@swissteam) 13. Februar 2018
Doch sie jubeln nicht. Sie haben gegen das kanadische Duo Kaitlyn Lawes und John Morris eine demütigende Niederlage erlitten (3:10). Silber gewonnen? Nein, Gold verloren. Eigentlich sollten sie den grössten Erfolg ihrer Karriere – olympisches Silber bringt im Quadrat mehr Ruhm als WM-Gold – erklären. Aber sie müssen den Chronistinnen und Chronisten die Niederlage analysieren. Die emotionale Quadratur des Kreises: In der Stunde des grössten Erfolges die Niederlage erklären.
Martin Rios ist in der Enttäuschung nach der Finalniederlage noch sympathischer als nach dem Triumph im Halbfinal. Hier sitzt er und kann nicht anders und sagt, dass er enttäuscht ist. Dass seine Mixed-Partnerin und er Gold wollten. Dass er nicht gut gespielt habe. «Ich bin sehr enttäuscht wegen meiner Leistung. Wir spielten drei gegen eins – alle gegen Jenny», sagte er.
Nicht von künstlicher Freude, die man zeigen sollte nach dem Gewinn einer Medaille. Und als irgendeinmal auch Jenny Perret nach ihrer Ansicht gefragt wird, sagt sie mit viel Sinn für Ironie: «Ich stimme ihm zu.»
Aber schliesslich schimmert doch noch ein wenig die Freude durch. Beide sagen, die Olympischen Spiele seien eine tolle Erfahrung. «Man kann es nicht in Worte fassen, man muss es erleben», sagt Jenny Perret.
Ob es weitergeht, wissen beide noch nicht. Martin Rios ist Nachwuchstrainer beim Verband und reist nun nach Hause. Um am Wochenende in Arlesheim bei der Junioren-Meisterschaft vorbeizuschauen. Jenny Perret ist Ersatzspielerin beim heute beginnenden «richtigen» Curling.
Wie konnte es sein, dass dieses Finale in einer schweren Niederlage (3:10), ja in der Kapitulation – einer vorzeitigen Aufgabe nach sechs von acht End – geendet hat? Martin Rios sagt, in der Niederlage werde immer ein Grund, ein Schuldiger gesucht. Aber so einfach sei es nicht. «Viele Faktoren spielen mit».
Curling wird viel mehr noch als andere olympische Leibesübungen im Kopf entschieden. Wer nichts von diesem Spiel der rutschenden Steine versteht, sich nicht um Taktik kümmert und sich auf die «weichen» Faktoren konzentriert, kommt der Wahrheit wohl am nächsten. Martin Rios und Jenny Perret haben dieses Finale auf der mentalen Ebene verloren.
Sie waren in diesem olympischen Wettkampf stets «geladen». Sie standen, im übertragenen Sinne, immer auf den Zehen. Ratlos, fordernd, nervös, voller Adrenalin, in den entscheidenden Momenten hoch konzentriert. Sie zankten, sie trieben sich gegenseitig an. Mental schienen sie wie unzerstörbar. So stürmten sie bis ins olympische Finale.
Aber in diesem Finale, im grössten Spiel ihrer Karriere, ihres Lebens, waren sie nicht mehr sich selber. Als sei ihnen auf einmal klar geworden, wie hoch sie geflogen sind. Und erschrocken inne hielten. Sie zankten nicht mehr. Sie waren auf einmal ein ganz gewöhnliches Mixed-Doppel.
Aber ein braver Martin Rios ist kein Curling-Titan mehr. Und eine ruhige Jenny Perret bloss eine gewöhnliche Spielerin. Wie heisst doch der Bestseller von Ute Erhardt so schön: «Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin: Warum brav sein uns nicht weiterbringt.»
Unser streitbares Curling-Doppel ist beim Griff nach olympischem Gold, dem ultimativen Preis im Sport, an zu viel Harmonie gescheitert. Der Traum von Gold hat sich in Minne aufgelöst. Nach einigem Nachdenken sagt Martin Rios: «Ja, das könnte sein». Zumindest sei das wohl einer der Gründe für die Niederlage. Und seine Spielpartnerin sieht es auch so. Zuviel Harmonie.
Martin Rios und Jenny Perret haben Gold verloren. Aber sie haben nicht nur Silber gewonnen. Sie haben uns in nur 24 Stunden ein grosses olympisches Drama beschert.
Und ja, der Tag der Niederlage war der 13. Februar. Nun ist klar, warum die 13 sowohl eine Glücks- wie eine Unglückszahl sein kann. Martin Rios und Jenny Perret haben an einem 13. unglücklich, ja beinahe schmählich ein Spiel verloren – und gleichzeitig die erste Medaille für die Schweiz gewonnen.