Ach, endlich einer, der authentisch ist. So redet, wie er denkt. Und so ist Martin Rios in einer Welt, in der jedem durch Medienschulungen die verbalen Persönlichkeitskanten mit der Nagelfeile eingeebnet werden, ein bunter Hund. Ein bisschen wie Paul Accola und Gölä – aber mit viel mehr Charme. Einem Lausbuben-Charme.
Ganz offensichtlich hat Martin Rios in diesem Curling-Drama kühlen Kopf bewahrt. Er wird hinterher auch sagen, dass er überhaupt nicht nervös war. «Warum auch? Ich hatte ja nichts zu verlieren. Drei Jahre haben wir auf das Ziel Olympia hingearbeitet. Auch wenn wir keine Medaille geholt hätten, so war es schon wegen des tollen Erlebnisses die Mühe wert. Die Stimmung in der Schweizer Delegation ist super. Und überhaupt: warum nervös sein? Es ist ja nur Curling.»
Seine Partnerin Jenny Perret konnte hingegen ihre Nervosität nicht verbergen – und nach dem Sieg die Emotionen auch fast nicht. Die Tränen standen ihr zuvorderst, als sie über diesen dramatischen Halbfinal Auskunft gab. «Ich habe noch gar nicht realisiert, was passiert ist. Ich war so nervös, dass ich einfach nur das Ende des Spiels herbeigesehnt habe.»
Was Martin Rios so kommentierte: «Zum Glück war Jenny nervös. Dann kann sie nicht mehr denken und spielt besser. Es ist immer gut, wenn sie den Kopf im Spiel nicht einschalten kann.» Aber er sagt es so charmant, dass es nicht boshaft wirkt. Auch seine scherzhafte Bezeichnung für die Frauenhockeymannschaft («Hockeyhühner») wirkt, so wie er es sagt, charmant. Man kann ihm einfach nicht böse sein.
Nun steht das Spiel um Gold an. «Wir haben das nach aussen nie kommuniziert – aber Gold war unser Ziel. Dafür sind wir hierhergekommen.» Eigentlich könnte er jetzt, da er als Medaillengewinner feststeht, bis zum Ende der Spiele bleiben. Aber so oder so wird er am nächsten Sonntag schon wieder in der Schweiz sein. «Ich werde bei den Junioren-Meisterschaften in Arlesheim vorbeischauen.» Ja, die Medaille werde er mitnehmen.
Ein weiteres Ziel hat er auch schon erreicht. Er wollte ein Foto mit Lindsey Vonn im olympischen Dorf – und hat es. Weil es ihm die Chronisten nicht glauben wollen, zückt er das Smartphone und zeigt das Bild. «Mit dem UNO-Generalsekretär habe ich auch noch ein Foto gemacht.» Und auf die Frage warum, sagt er mit viel Selbstironie: «Weil ich halt ein Glarner Löli bin.»
Martin Rios und Jenny Perret sind noch aus einem Grund eines der interessantesten Paare unserer Sportgeschichte. Weil die Spielerinnen und Spieler «verdrahtet» (mit Mikrofonen ausgerüstet) sind, erlebt das TV-Publikum, wie die beiden während des Spiels miteinander umgehen wie ein «chifelndes» Ehepaar aus einem Gotthelffilm.
Martin und Jenny waren einst ein Liebespaar, trennten sich 2015. Aber sie erkannten, dass sie gemeinsam olympischen Ruhm erreichen können und spannten fürs Curling weiterhin zusammen.
Martin Rios sagt, was wie Zank wirke, gehöre zum Spiel. «Harmonie brauchen wir nicht. Wir haben harte Köpfe, aber wir wissen, wie wir Lösungen finden können.» Um hoch konzentriert zu sein, sei es besser, wenn Adrenalin durch die Adern fliesse. Harmonie ist definitiv kein Adrenalin-Booster. Das russische Curling-Duo ist verheiratet – und hat doch verloren.
Der Glarner mit spanischen Wurzeln – er hat auch zwei Jahre für Spanien gespielt – und die Bernerin schreiben eine aussergewöhnliche Geschichte. Aber so selten sind erfolgreiche Paare, die sich nicht lieben, gar nicht. Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler waren in den 1960er-Jahren das deutsche Sport-Traumpaar schlechthin und verzauberten ein ganzes Land. Sie wurden zweimal Weltmeister, sechsmal Europameister und holten zweimal olympisches Silber. Aber sie tauschten nur kalte Küsse.
Es geht also auch ohne Liebe und Leidenschaft. Entscheidend für den sportlichen Erfolg ist weder Harmonie noch Liebe. Sondern Kommunikation. Damit beide genau wissen, was zu tun ist. Um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Deshalb ist es letztlich unerheblich, ob liebevoll geflüstert oder hässig Tacheles geredet wird.
Martin Rios passt mit seinem Wesen und Wirken gar nicht in diese ruhige, leise Welt des Curlings. Eher würde man in ihm einen ehemaligen Hockey-Haudegen vermuten, der sich nach seinem Rücktritt ins Curling verirrt hat. Man traut ihm gar nicht zu, so feinfühlig mit Curling-Steinen umgehen zu können.
Noch vor einem Jahr sah es ganz und gar nicht so aus, als könnte dieses unkonventionelle Traumpaar die erste Medaille an den Spielen 2018 holen.
Mit einem Sieg bei den Schweizer Meisterschaften holte das streitbare Curling-Duo erst einmal den WM-Startplatz. Doch dann tauchte ein Video auf, das angeblich beweisen sollte, dass Martin Rios in einem Spiel einem Stein mit dem Fuss eine entscheidende Richtungsänderung gab. Was im Curling absolut tabu ist und ungefähr so verpönt wie beim Schwingen einen Gegner ins Ohr beissen.
Ausgerechnet die jeder Polemik abholde, hoch angesehene Agentur SDA polemisierte vom «mutmasslichen Sportbetrug». Die beschauliche Curling-Szene geriet vorübergehend in Aufruhr.
Sanktionen gab es letztlich keine, aber in einem vom Verband angeordneten Entscheidungsspiel mussten sie den WM-Startplatz bestätigen. Und schafften bei dieser WM in Kanada auf sensationelle Art und Weise die Qualifikation für die Spiele in Südkorea. Sie mussten, um der Schweiz einen olympischen Startplatz zu sichern, das Finale erreichen – und holten in einem dramatischen Finale gegen Gastgeber Kanada gar WM-Gold.
Und jetzt geht es um Gold wieder gegen ein kanadisches Duo. Die Vorrundenpartie war allerdings 2:7 verloren gegangen.
Aber das will gar nichts heissen: Martin Rios und Jenny Perret zeichnet aus, dass sie nie aufgeben und bisher jede sportliche Curling-Extremsituation mit Bravour gemeistert haben.