«Kann der ein bisschen deutsch?», fragt der Kollege aus Österreich, im Glauben, der Überraschungsmann aus der Schweiz, der soeben mit Startnummer 32 auf Platz 4 gefahren ist, sei einer aus der Romandie. Auch auf seinem Weg von einer Fernseh-Station zur nächsten muss sich Gilles Roulin immer wieder erklären. Der 23-Jährige Nachwuchsmann hat einen interessanten Hintergrund.
Seit dem Super-G-Sieg von Beat Feuz 2011 hatte sich auf der Grödner Saslong kein Fahrer von Swiss-Ski so gut platzieren können wie nun Roulin, weder im Super-G noch in der Abfahrt. Roulin bestritt gerademal sein 11. Weltcuprennen. Val Gardena war für ihn Neuland, wie die meisten anderen Strecken auch.
«Ich muss sicher meinem Servicemann danken, denn im Flachen habe ich normalerweise noch Mühe. Deshalb rechnete ich mir auch nicht sehr viel aus für diesen Tag», erklärte der 23-Jährige nach seinem unerwarteten Coup.
Gilles Roulin spricht zwar ausgezeichnet französisch, doch ein Westschweizer, wie es sein Name vermuten liesse, ist er nicht. Roulin ist ein waschechter Zürcher. «Ja, darauf werde ich oft angesprochen», erklärt er. Selbst bei Swiss-Ski scheint Roulins Herkunft nicht überall durchgedrungen zu sein. «Es kommt vor, dass ich vom Verband Post in französischer Sprache bekomme.»
Roulin ist in Grüningen im Zürcher Oberland zuhause. Sein Grossvater stammt zwar aus der Romandie, doch seine Eltern zogen schon im Kindesalter nach Zürich.
Vor gut drei Jahren schloss Roulin das Skigymnasium im österreichischen Stams ab. Mittlerweile absolviert er ein Jus-Fernstudium. Er steht im fünften von neun Semestern und büffelt in jeder freien Minute. Im Januar stehen Prüfungen an, zu einem für einen Skirennfahrer äusserst ungünstigen Termin. So kommt es ihm sehr gelegen, dass er als Vierter die Norm zur Teilnahme an den Olympischen Spielen bereits im Trockenen weiss: «Im Februar habe ich dann Zeit, mich auf den Sport zu konzentrieren.»
Bezüglich den Olympischen Spielen gibt er sich noch vorsichtig. Die Qualifikations-Norm hat er mit dem 4. Platz zwar bereits erfüllt, doch er sagt: «Die endgültige Entscheidung ist noch nicht gefallen. Natürlich wäre eine Teilnahme ein Traum, der in Erfüllung gehen würde. Deshalb kann ich hoffentlich weiter gute Argumente liefern, um dort dabei sein zu können.»
Auch nach seinem Coup von Val Gardena bleibt er auf dem Boden. «Ziel bleibt weiterhin, regelmässig in die Top 30 zu fahren, alle Strecken kennenzulernen und eine stetige Verbesserung.» In Val Gardena fehlten ihm nur 15 Hundertstel aufs Podium. «Ich bin auch so dankbar, denn hinter mir folgten einige mit ähnlichem Zeitabstand.»
Dass aus Gilles Roulin ein Skifahrer wurde, dazu hatte einst auch Bruno Kernen beigetragen. Als Neunjähriger war Roulin in Laax während eines Sponsoren-Anlasses, zu dem sein Vater eingeladen war, einen ganzen Vormittag lang mit dem früheren Abfahrtsweltmeister Ski gefahren. Kernen hatte ihm danach geraten, einem Skiclub beizutreten.
Im vergangenen Winter hatte Roulin im Europacup gross abgeräumt. Zu Beginn des Jahres gewann er innert drei Wochen sieben Rennen. Am Ende entschied er sowohl die Gesamt- als auch die Abfahrts- und die Super-G-Wertung für sich. Deshalb hat er nun im Weltcup in jedem Rennen einen fixen Startplatz. In allen bisherigen Speedrennen dieser Saison schaffte er es in die Top 30, das zuvor beste Resultat gelang ihm in der Abfahrt von Lake Louise, die er als Zwölfter beendete.
Roulin mutet sich derzeit ein happiges Programm zu. Als einer von wenigen Fahrern wird der Zürcher morgen auch zum Riesenslalom in Alta Badia antreten. «Ich hoffe, die Beine werden nicht allzu schwer sein», sagte er dazu, bereits in der Vorfreude, mit dem Helikopter den Transfer machen zu dürfen. Dieses Privileg steht all jenen zu, die sich nach den Speedrennen im Grödnertal auch noch mit den Riesenslalom-Cracks messen.
In Val Gardena klassierten sich zwei weitere Schweizer in den ersten zehn. Beat Feuz egalisierte als Achter sein bestes Abfahrtsergebnis im Grödnertal. Nur 17 Hundertstel verlor er auf Teamkollege Roulin. Ein besseres Resultat vergab er in der Ciaslat: «Dort traute ich mich nicht, richtig anzugreifen. Die Strecke liegt mir eben nicht so gut. Ich war aber immerhin näher am Podium als auch schon.» Mauro Caviezel wurde Zehnter.
Der überragende Mann war aber erneut Aksel Lund Svindal, der nach 2015 zum zweiten Mal die Abfahrt in Val Gardena gewann. Im Super-G triumphierte er hier schon viermal. Mit insgesamt sechs Erfolgen ist der Norweger der Rekordsieger im Grödnertal.