Auch fast genau 20 Jahre nach ihrem Profidebüt hat Martina Hingis noch Gänsehaut und feuchte Hände, wenn sie auf einen Tennisplatz geht. Zumindest, wenn es der Final eines Grand-Slam-Turniers ist. 2006 hatte sie dieses Gefühl das letzte Mal, als sie an der Seite des Inders Mahesh Buphati am Australian Open das Mixed gewann. In der Nacht auf morgen hat sie in New York – ziemlich unverhofft – wieder eine Chance.
Die Ostschweizerin bereut nicht, dass sie schon im zarten Alter von 14 Jahren ihren Einstand auf der Frauentour gab. Sie findet auch nicht, dass die Regeln nötig sind, die heute junge Tennisspielerinnen vor einem zu frühen Einstieg schützen und die Anzahl ihrer Turniere limitieren. Dennoch waren die letzten 20 Jahre ihres Lebens von einigen Wirrungen begleitet.
1997 wurde sie die jüngste Nummer 1 der Geschichte, bis zu ihrem ersten Rücktritt 2003 wegen chronischen Schmerzen im Fuss gewann sie fünf Grand-Slam-Titel im Einzel und neun im Doppel. 2006 kehrte sie zurück und schaffte es nochmals in die Top Ten, wurde wegen einer positiven Dopingprobe (Kokain) zwei Jahre gesperrt und kehrte dem Tennis erneut eine Weile den Rücken.
Die «Swiss Miss», die mit ihrem federleichten Stil und dem immensen Spielwitz die Tenniswelt verzaubert hatte, wurde zur Persona non grata und durfte nicht einmal mehr als Gast Turniere besuchen. Nach Ablauf der Sperre war ihre Reputation jedoch schnell wieder hergestellt. Während in der Schweiz eher über Hingis' offensichtlich recht turbulentes Ehe- und Liebesleben diskutiert wurde, blieb ihre Popularität international ungebrochen.
Engagements als Coach von Anastasia Pawljutschenkowa und Sabine Lisicki waren allerdings nicht von Dauer und von wenig Erfolg gekrönt. Vor einem Jahr wurde sie in die «Hall of Fame» aufgenommen – und gab ein zunächst wenig beachtetes zweites Comeback im Doppel. Damit war sie aber wieder da, wo sie sich am wohlsten fühlt: auf dem Tennisplatz.
Nach ein paar Monaten hatte sie schliesslich mit Flavia Pennetta die richtige Partnerin gefunden. «Sie kann an der Grundlinie jedes Tempo mitgehen», erklärt Hingis. «Und ich mache den Gegnerinnen Angst am Netz.» Gleich im ersten Turnier im Juni erreichten die beiden in Eastbourne den Final.
Die 32-jährige Italienerin gewann 2011 das Australian Open im Doppel und war die Nummer 1. Sie schwärmt von Hingis: «Sie könnte 20 Jahre vom Tennis weg sein, zurückkommen und spielen, wie wenn sie nie weg gewesen wäre.» Würde das allenfalls auch für ein Comeback im Einzel reichen? Die Rheintalerin winkt ab: «Das habe ich gehabt, das ist mir zu anstrengend.»
So hatte sie in New York genügend Zeit, den Durchbruch von Belinda Bencic zu verfolgen. Die Parallelen sind verblüffend – und natürlich kein Zufall. «Sie hat bei meiner Mutter Tennis spielen gelernt», betont Hingis. «Und sie legt viel Wert auf die Technik.» Bencic, die ihre Wurzeln wie ihr Vorbild in der Slowakei hat, zog bereits im Alter von sieben Jahren extra aus der Ostschweiz in den Kanton Schwyz, um bei Hingis' Mutter Melanie Molitor trainieren zu können.
«Ich habe mich riesig über ihre Erfolge gefreut», sagt Hingis. Ein bisschen überrascht sei sie schon davon, aber nur ein bisschen. «Ich habe vor dem Turnier mit ihr trainiert und gesehen, wie gut sie spielt.» Die 17-Jährige sei definitiv keine Kopie von ihr.
«Belinda ist kräftiger und hat mehr Waffen als ich, kann mehr Winner schlagen, während ich mich vielleicht noch etwas besser bewegt habe.» Für Hingis ist klar, dass Bencic ein «riesiges Potenzial» habe, definitiv für die Top 5. «Wie weit sie es aber letztlich bringt, liegt an ihr selber.»
Irgendwann hatte Hingis aber genug über Bencic gesprochen und wollte keine weiteren Fragen dazu beantworten. Immerhin steht sie mittlerweile selber bald in einem Grand-Slam-Final. Zurück auf der grossen Bühne, ganz in ihrem Element. (si/syl)