Sport
Tennis

Zwei Tennis-Waisenkinder schreiben ein olympisches Märchen

epa05479145 Timea Bacsinszky (L) and Martina Hingis (R) of Switzerland celebrate after winning the women's semi-final doubles match against Andrea Hlavackova and Lucie Hradecka from Czech Republi ...
Die Erlösung nach dem Sieg: Timea Bacsinszky und Martina Hingis stehen im Doppel-Final.Bild: EPA/KEYSTONE

Die Schöne und das Biest – zwei Tennis-Waisenkinder schreiben ein olympisches Märchen

Martina Hingis (35) und Timea Bacsinszky (27) gewinnen den Olympia-Halbfinal gegen die Tschechinnen 5:7, 7:6, 6:2 und spielen am Sonntag um Gold. Eine Geschichte, die alle phantastischen olympischen Wirklichkeiten übertrifft.
13.08.2016, 08:0913.08.2016, 11:03
klaus zaugg, rio de janeiro
Mehr «Sport»

Es waren einmal... So müsste diese Geschichte beginnen. Es waren einmal zwei olympische Waisenkinder. Ungeliebt und beim grossen olympischen Ball nur am Katzentisch geduldet. Nun sind sie lorbeerumkränzte Königinnen.

Martina Hingis und Timea Bacsinszky spielen dieses Doppel nur, weil sie von der olympischen Tennisfamilie verlassen worden sind. Martina Hingis hätte mit Roger Federer das Mix-Doppel und mit Belinda Bencic das Doppel spielen sollen. Roger Federer und Belinda Bencic haben auf Rio verzichtet. Und so muss Martina Hingis halt mit Timea Bacsinszky vorliebnehmen. Zwei Waisenkinder finden zueinander. Sie haben vorher nie zusammen gespielt. Und schreiben ein olympisches Märchen.

ZUR MELDUNG, DASS BELINDA BENCIC AUF DAS FRENCH OPEN IN PARIS VERZICHTEN MUSS, STELLEN WIR IHNEN AM DIENSTAG, 17. MAI 2016, FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR VERFUEGUNG - Belinda Bencic of Switzerland celebrat ...
Belinda Bencic war als Doppelpartnerin von Hingis vorgesehen, musste aber wie Federer (und Wawrinka) für Rio Forfait geben.Bild: AP

Neues Element

Es ist ein Tennis-Doppel wie Feuer und Wasser. Genie und Energie, Technik und Kraft verbinden sich zu einem neuen Element.

Die erste Runde hatten sie nur dank Martina Hingis' Klasse, Erfahrung, taktischer Schlauheit doch noch überstanden. Die Frage zu diesem Zeitpunkt, nicht boshaft, sondern realistisch: Gewinnt Martina Hingis TROTZ Timea Bacsinszky eine Medaille?

Timea Bacsinszky, right, and Martina Hingis of Switzerland talk during the women’s second round doubles match against Bethanie Mattek-Sands and Coco Vandeweghe of USA at the Olympic Tennis Center in R ...
Das Duo Hingis/Bascinszky steigerte sich kontinuierlich.Bild: KEYSTONE

Der zweite Sieg korrigiert diese Einschätzung ein wenig. Die Frage lautet nun: Gewinnt Martina Hingis MIT Timea Bacsinszky eine Medaille? Und nach der dritten Runde und vor dem Halbfinal ist klar: Martina Hingis kann DANK Timea Bacsinszky eine Medaille holen.

Am Auge getroffen

Dieses Halbfinal-Drama gegen Andrea Hlavackova/Lucie Hradecka wird auf den ersten Blick durch einen «Kopftreffer» von Martina Hingis entschieden. Die Schweizerinnen gewinnen nach der Abwehr von zwei Matchbällen mit 5:7, 7:6 (7:3), 6:2.

Martina Hingis trifft Andrea Hlavackova beim zweiten Matchball gegen die Schweizerinnen voll am Kopf.streamable

Martina Hingis hatte beim Stand von 5:7, 4:5 zwei Matchbälle abgewehrt. Beim zweiten schlägt sie Andrea Hlavackova den Filzball volley ins Gesicht. Diese muss sich während rund zehn Minuten verarzten lassen. Es ist die spektakuläre Wende in einem Spiel, das bereits verloren schien.

Welch enorme Wirkung dieser unabsichtliche Treffer tatsächlich hatte, wird erst nach dem Spiel in vollem Umfang klar. Andrea Hlavackova verlässt nach dem Drama die Arena scheinbar unversehrt. Kein blaues Auge. Keine Schwellungen im Gesicht.

Andrea Hlavackova from Czech Republic keeps ice on his head after being hit by a tennis ball of Swiss Martina Hingis during the women's semi-final doubles match Timea Bacsinszky and Martina Hingi ...
Andrea Hlavackova kam zwar ohne blaues Auge und Schwellungen davon, die Wirkung des «Kopftreffers» war dennoch beträchtlich.Bild: KEYSTONE

War alles halb so schlimm? Ist sie am Ende gar eine Drama-Queen? Nein. Es war wirklich ein Drama. Sie erzählt: «Ich bin genau auf dem linken Auge getroffen worden. Nicht neben dem Auge. Ich habe nichts mehr gesehen und bangte um mein Augenlicht.»

Erst nach zehn Minuten sei das Sehvermögen zurückgekehrt. Aber nicht ganz. «Bis zum Ende des zweiten Satzes habe ich die Bälle doppelt gesehen. Es ist schwierig, ein Doppel zu spielen, wenn ich die Bälle doppelt sehe…»

So stark wie noch nie

Andrea Hlavackova machte Martina Hingis keinen Vorwurf und sie suchte auch nicht nach Ausreden. «Das war einfach Schicksal, es stand wohl in den Sternen geschrieben, dass es so kommen muss. Martina und Timea waren letztlich besser. Sie haben sich immer besser auf unser Spiel eingestellt und haben immer aggressiver gespielt.»

Mag sein, dass erst Martinas «Tennis-Tellgeschoss» in diesem fast dreistündigen Drama (2:42 Stunden) den Weg in den Final geöffnet hat. Aber eine noch entscheidendere Rolle spielte Timea Bacsinszkys Energie.

Timea Bacsinszky returns a ball next to Martina Hingis, not pictured, of Switzerland during the women's semi-final doubles match against Andrea Hlavackova and Lucie Hradecka from Czech Republic a ...
Mit ihrer Energie trug Timea Bascinszky wesentlich zum Exploit der Schweizerinnen bei.Bild: KEYSTONE

Erst ab dem dritten Satz entfaltet die Mischung aus Genie und Energie, Technik und Kraft die volle Wirkung – nach der Abwehr der zwei Matchbälle steht der Sieg nie in Gefahr und im dritten Satz spielen die beiden Schweizerinnen so stark wie noch nie in diesem Turnier.

Martina Hingis hatte im zweiten Satz in ihrer Körpersprache leise Zeichen der Resignation verraten. Auf der Tribune kamen zwei hoch angesehene Experten, deren Namen mir soeben entfallen sind, zu einem eindeutigen Urteil: «Es ist vorbei.»

Bacsinszky auf Betriebstemperatur

Aber Timea Bacsinszky rettet die Situation. Sie strahlt unverdrossen Energie, Mut und Zuversicht aus. Sie tigert über den Platz, steht nie still, muntert ihre Partnerin auf und tatsächlich wird sie hinterher verraten: «Ich habe Martina gesagt, dass ich einfach nicht aufgeben werde, dass ich um Gold spielen will, dass ich dafür wenn nötig einen Marathon laufen und bis nach Mitternacht spielen werde, um dieses Ziel zu erreichen.»

Ohne die Energie ihrer Partnerin wäre Martina Hingis gar nicht mehr zum «Tennis-Tellschuss» gekommen. So wie Martina Hingis mit ihrer Klasse, Schlauheit und Erfahrung den Sieg gerettet hatte, so ist es nun Timea Bacsinszky, die sich revanchiert. Und hinterher wird Martina Hingis das aggressive Spiel und die Energie ihrer Partnerin ausdrücklich loben.

Timea Bacsinszky fehlt die göttliche Leichtigkeit des Spiels, die bei Martina Hingis immer wieder aufblitzt und erahnen lässt, warum sie einmal die beste Spielerin der Welt war. Timea Bacsinszky wirkt eher ungelenk («Rumpeltennis») und es scheint, als brauche sie eine gewisse Zeit, um in Hitze zu geraten, das Feuer der Leidenschaft zu entfachten, Betriebstemperatur und Kampfgeist zu finden. Im Einzel ist sie bereits in der ersten Runde kläglich ausgeschieden, weil sie diese Betriebstemperatur nie erreicht hatte. Die wahre Timea Bacsinszky haben wir erst jetzt im Halbfinal an der Seite von Martina Hingis gesehen.

epa05475187 Russian tennis players Ekaterina Makarova (R) and Elena Vesnina (L) celebrate their victory against the Spanish tennis players Garbiñe Muguruza and Carla Suarez during a doubles match in t ...
Die Finalgegnerinnen Jekaterina Makarowa (l.) und Jelena Wesnina.Bild: EPA/EFE

Tennistechnisch ist sie ein Biest. Timea Bacsinszky und die mit göttlichem Talent gesegnete Martina Hingis – es ist die Geschichte von der Schönen und dem Biest. Übertragen aufs Tennis.

Im Final warten am Sonntag im Spiel um Gold und Silber, die Russinen Jekaterina Makarowa/Jelena Wesnina.

Die Medaillengewinner von Rio vom 12.8.

Fakten zu den Olympischen Spielen von Rio 2016

Alle Storys anzeigen

Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!

  • watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
  • Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
  • Blick: 3 von 5 Sternchen
  • 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen

Du willst nur das Beste? Voilà:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
18 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Bruno Wüthrich
13.08.2016 09:35registriert August 2014
Einsicht oder Resignation? Nicht von Anfang ihrer Karriere an, aber seit einigen Jahren, verliert Martina Hingis, wenn ich ein Spiel von ihr anschaue. Weil Doppel- und Mixedmatchs nur selten übertragen werden, war die jedoch nur selten der Fall.

Gestern ging ich nach 5:7 0:3 ins Bett. Ich wollte die Niederlage nicht miterleben, hatte aber irgendwie im Gefühl, dass Martina und Timea besser spielen würden, wenn ich nicht mehr schauen würde.

Und siehe da: Tatsächlich! Am Ende ein dramatischer Sieg. Und die Erkenntnis, dass die Schweiz diese Medaille auch ein Bisschen mir zu verdanken hat. ;-)
8726
Melden
Zum Kommentar
avatar
Luca Brasi
13.08.2016 12:23registriert November 2015
Oho, läuft da was unter den Sandstränden von Rio zwischen Herrn Zaugg und Frau Hingis? Die Schöne...alter Schlawiner...Hehe. 😉
453
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pasionaria
13.08.2016 13:00registriert Februar 2016
Klaus Zaugg
Die Assoziation 'die Schöne und das Biest' scheint mir wirklich nicht passend, erkenne darin weder die eine noch die andere Spielerin! Ein von weit her geholter Vergleich, tönt aber gut!?
Weniger reisserisch würde der Titel eher 'die mit dem Händchen und die mit dem Willen' lauten. Für diesen Halbfinal dann noch passender: die Glücklichen gegen die Leidvollen....
Martina wird wohl nicht bereuen, dass ihre erste Wahl (ehemalige Landsfrau!) nicht zustande kam. Dies spätestens jetzt!

Jedenfalls darf man sich auf den Final freuen.
365
Melden
Zum Kommentar
18
Federer vs. Nadal – das allererste Duell wird für den «Maestro» eines zum Vergessen
28. März 2004: In Key Biscayne stehen sich Roger Federer und Rafael Nadal zum ersten Mal auf der ATP-Tour gegenüber. Der Schweizer verliert überraschend – und wird sich am seinem spanischen Dauerrivalen noch mehrmals die Zähne ausbeissen.

Die Sonne war längst untergegangen über dem Centre Court der Tennis-Anlage von Key Biscayne, dieser langgezogenen Insel vor Miami im Süden Floridas. Ein paar hundert Fans harrten aus, warteten auf den letzten Match dieses Sonntags. Das heisst: Die meisten von ihnen warteten auf den Auftritt von Roger Federer, seit knapp zwei Monaten die Weltnummer 1. Nur ein paar absolute Tennis-Nerds warteten auch auf Rafael Nadal. Erst die Nummer 34 im Ranking war der Spanier aber ein grosses Versprechen. Laufstark soll er sein, mit harter linker Vorhand.

Zur Story