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WM 2014

1:7 gegen Deutschland – Waterloo, Götterdämmerung und ein Drama für ein Jahrhundert

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Wie damals 1950

1:7 gegen Deutschland – Waterloo, Götterdämmerung und ein Drama für ein Jahrhundert

Nun hat Brasilien sein zweites nationales Trauma. 1:7 gegen Deutschland. Diese Niederlage wird die Brasilianer während des ganzen 21. Jahrhunderts beschäftigen. Wie das 1:2 gegen Uruguay bei der ersten WM im eigenen Land im Jahre 1950.
09.07.2014, 13:08
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Dieses 1:7 ist nicht einfach eine Niederlage in einem Fussballspiel. Kein anderes Land der Welt beschäftigt sich so intensiv und ausdauernd mit seinen fussballerischen Triumphen und Dramen. In keinem anderen Land hat Fussball eine so grosse Bedeutung. Auch nicht in Deutschland. Ein Blick zurück zeigt uns, welche Folgen dieses 1:7 haben wird.

Ein brasilianischer Fan trauert nach dem Debakel gegen Deutschland.
Ein brasilianischer Fan trauert nach dem Debakel gegen Deutschland.Bild: RUBEN SPRICH/REUTERS

«Psychologisch nicht auf Niederlagen vorbereitet»

Dieses 1:7 ist das erste Ereignis, das mit der Tragödie von 1950 vergleichbar ist. Das 1:2 im letzten Spiel der WM 1950 kostete Brasilien den Titel. Kein anderes Ereignis fasziniert auf geradezu morbide Weise die Brasilianer mehr als diese finale Niederlage im Maracana. In Brasilien hat dieses 1:2 ein florierendes literarisches Genre hervorgebracht. Der einflussreiche brasilianische Anthropologe Roberto da Matta schrieb allen Ernstes, das Spiel von 1950 «ist vielleicht die grösste Tragödie in der jüngeren Geschichte Brasiliens, weil sie kollektiv erlebt wurde und dem ganzen Land das Bild einer verlorenen historischen Gelegenheit einprägte. Was blieb, war eine unermüdliche Suche nach Erklärungen und Schuldzuweisungen für die schmachvolle Niederlage.»

Ghiggia trifft für Uruguay im Final gegen Brasilien 1950.
Ghiggia trifft für Uruguay im Final gegen Brasilien 1950.Bild: AP, WCSCC

Spätere Kommentatoren haben die Meinung vertreten, dass Brasiliens Schmerz und Trauer nach 1950 eine unvermeidliche Phase des Erwachsenwerdens, gewissermassen das pubertäre Verhalten einer jungen Nation war. Flavio Costa – einer der berühmtesten brasilianischen Trainer aller Zeiten und 1950 Nationalcoach – sagte, dass die Brasilianer bis dahin nationale Tragödien noch nicht erlebt hatten und so psychologisch nicht auf Niederlagen vorbereitet waren.

Seit seiner Gründung als Republik im Jahre 1889 hatte Brasilien – abgesehen von wenigen Grenzstreitigkeiten – mit keinem seiner Nachbarn Krieg geführt. So ist es bis heute geblieben. Das Land hat politische Aufstände erlebt und Diktatoren kommen und stürzen sehen. Aber es hat kaum gemeinsam erinnerte und gefeierte Momente. «Von allen bisherigen historischen Beispielen nationaler Krisen ist die Weltmeisterschaft von 1950 die schönste und verklärteste. Sie ist das Waterloo der Tropen und ihre Geschichte unsere Götterdämmerung», schrieb der Journalist Paolo Perdigao. «Die Niederlage verwandelte eine gewöhnliche Tatsache in eine aussergewöhnliche Erzählung: es ist ein fabelhafter Mythos, der sich in der allgemeinen Phantasie fortgesetzt hat und nicht aufhört zu wuchern.» Waterloo, Götterdämmerung – das passt auch zum 1:7 gegen Deutschland.

Schmach statt Erlösung

In Europa wird die Zeiteinteilung des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern von den beiden Weltkriegen bestimmt. Brasilien bestimmt sein historisches Zeitgefühl nach den Rhythmen der Fussball-Weltmeisterschaften. In den Wochen, da das Turnier stattfindet, fühlt es sich am meisten als geeinte Nation. Brasilien hat als einziges Land an allen Weltmeisterschaften teilgenommen, so dass sich die Lage der Nation in Zeitsprüngen von vier Jahren darstellen lässt.

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Brasilien – allen voran Goalie Cesar – am Boden zerstört.
Brasilien – allen voran Goalie Cesar – am Boden zerstört.Bild: Felipe Dana/AP/KEYSTONE

Die WM 2014 hätte Brasilien endlich, endlich vom Trauma von 1950 befreien können. Doch nun bringt dieses 1:7 gegen Deutschland ein neues Trauma. Ein Trauma fürs 21. Jahrhundert. Eine Niederlage mit einem oder zwei Treffer Differenz, nach Penaltys oder in der Verlängerung liesse sich eher verschmerzen. Aber 1:7. 1950 war es ein jäher Sturz aus himmelhohen Erwartungen gewesen. Dieses 1:7 ist anders, aber ebenso schlimm. Diese Schmach ist das schier unglaubliche Ende eines Dramas, das sich durch die Verletzung von Neymar angekündigt hatte. Brasilien, ein glückloses Volk, verfolgt vom Unglück und Pech, von der Niedertracht des Schicksals.

Torhüter Julio Cesar war bei diesem 1:7 der ärmste Mensch auf dem Platz. Beinahe jeder Schuss in der ersten Halbzeit war ein Treffer. Er wird versuchen, nie wieder an diesen Abend zu denken. Es wird ihm so wenig gelingen wie Moacir Barbosa, Brasiliens WM-Goalie von 1950. Barbosa sagte einmal über sein Los nach diesem fatalen 1:2 gegen Uruguay: «Die Höchststrafe, welche in Brasilien für ein Kapitalverbrechen verhängt wird, dauert 30 Jahre. Ich habe 50 Jahre gekriegt. Ohne Chance auf Begnadigung.» Er hatte gegen Uruguay nur zwei Tore kassiert. Julio Cesar gegen Deutschland aber sieben.

Gelb, Grün, Blau

Brasilien trug beim WM-Turnier von 1950 weisse Trikots mit blauem Kragen. Selbst die Farben waren vor Schuldzuweisungen nicht sicher. Angeblich vermittelten sie nicht genug Patriotismus. Die in Rio erscheinende Tageszeitung «Correiro da Manha» schrieb, dem weissen Dress fehle es an «psychologischem und moralischem Symbolismus». Der Entwurf eines neuen Trikots sollte bei der Verarbeitung des Traumas helfen.

Am 14. März 1954 spielten die Brasilianer zum ersten Mal in den Farben, wie wir sie heute kennen: Gelbes Trikot, grüner Kragen, blaue Hosen. Sie gewannen gegen Chile 1:0. Diese Teamfarben sind so sprechend, unverkennbar und ikonisch, als ob die Spieler Personifikationen goldener Statuen wären. Der brasilianische Fussball ist ohne diese Farben unvorstellbar. Sie gehören wesentlich zum Glanz und zur Magie der Fussballmacht Brasilien.

Mit viel Stolz vertreten die Spieler ihre Farben.
Mit viel Stolz vertreten die Spieler ihre Farben.Bild: Natacha Pisarenko/AP/KEYSTONE

Tatsächlich ist das Trikot der Nationalmannschaft ein stärkeres Symbol als die Nationalfahne. Die Flagge – ein Kreis, ein Diamant und ein Rechteck konzentrisch übereinander gelegt – wurde 1889 zur Geburt der Republik entworfen. Das Grün repräsentiert die Regenwälder, das Gelb die natürlichen Reichtümer des Landes, das Blau den Nachthimmel über Rio. Wenn die Brasilianer einen Landsmann im Sport bejubeln, dann tragen sie stets ein gelbes Trikot. Denn mehr als alles andere gibt die dominierende Fussballfarbe ihnen ein Gefühl von nationaler Verbundenheit. Und jetzt dieses traumatische 1:7 gegen Deutschland. Zum ersten Mal hat der Zauber der Farben nicht gewirkt. Braucht es jetzt neue Farben wie nach 1950? Völlig undenkbar.

Die Frage der Schuldzuweisung

Das 1:2 von 1950 führte bei den Wahlen im gleichen Jahr zu einem Regierungswechsel. Das gleiche kann das 1:7 gegen Deutschland bei den Wahlen in diesem Jahr verursachen. Hätte diese WM einen Triumph gebracht, wäre die Opposition machtlos gewesen. Niemand hätte zugehört. Nach dem 1:7 gegen Deutschland ist alles anders. Die Dossiers liegen bereit, um alle Ungereimtheiten der Regierenden gerade im Zusammenhang mit dieser WM und den Olympischen Spielen 2016 in Rio anzuprangern. Die unermüdliche Suche nach Erklärungen und Schuldzuweisungen für die schmachvolle Niederlage gegen Deutschland beginnt. Wie 1950.

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