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5 Wahrheiten über das Leben als Profi-Sportler

Swiss snowboarder Ursina Haller in action during the qualification of the women's snowboard halfpipe competition at the XXI Olympic Winter Games in Cypress Mountain near Vancouver, British Columb ...
Ursina Haller: Als normale Fans sehen wir nur selten, mit welchen Problemen sich Spitzensportler herumschlagen müssen.Bild: KEYSTONE

5 Wahrheiten über das Leben als Profi-Sportler, bei denen du nur noch den Kopf schüttelst

Als Fans sehen wir meist nur die Glitzerwelt von Sportlern. Die harte Arbeit im Training bleibt uns meist verschlossen – genauso wie andere kleine Probleme, welche wir uns kaum vorstellen können. Die ehemalige Schweizer Spitzen-Snowboarderin Ursina Haller gewährt uns hier spannende Einblicke in den Profi-Alltag.
27.11.2017, 14:5628.11.2017, 05:37
ursina haller / no.1
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Materialschlacht

Das Leben als Spitzensportlerin ist beschwerlich. Das wurde mir kürzlich wieder klar. Ich stand an einem Zürcher Flohmarkt. Es war noch Sommer, ein schrecklich heisser Tag, und ich versuchte, ein Problem loszuwerden, das mich auch drei Jahre nach dem Rücktritt vom Profisport noch belastet. Es stand Kante an Kante auf meinem Verkaufsplatz, hing in allen Farben an Kleiderständern und lag in Wühlkisten zu meinen Füssen: Auch nach der Frühpensionierung besitze ich immer noch so viele Snowboards, Winterkleider oder Handschuhe, dass ich eine ganze Snowboardschule damit ausrüsten könnte.

«Verpackungsdienste halten es offenbar für gerechtfertigt, einem einzigen Stirnband eine Kartonschachtel in der Grösse eines Koffers zu widmen.»

Während meiner Sportlerlaufbahn klingelte der Pöstler beinahe wöchentlich an der Tür. Er lieferte das Material der Sponsoren aus: 60 Kleidungsstücke im Jahr, ein Dutzend Snowboards, ebensoviele Schuhe, haufenweise Brillen, Handschuhe, Funktionswäsche, Rucksäcke, Taschen. Verpackt in riesige Kartonschachteln rollte die Ware in mein Haus. Ich freute mich jedes Mal darüber. Braune Pappe wird rasch zu funkelndem Geschenkpapier, wenn man nicht weiss, welche zauberhaften Dinge sie umhüllt.

IM HINBLICK AUF DIE OLYMPISCHEN SPIELE IN SOCHI 2014 ERSTELLEN WIR NEUE PORTRAITS VON SCHWEIZER WINTERSPORTATHLETEN UND STELLEN IHNEN HEUTE DIE NEUEN BILDER VON URSINA HALLER ZUR VERFUEGUNG ---Snowboa ...
Ursina Haller: Solche Mützen hat sie sicherlich noch einen ganzen Schrank voll zuhause.Bild: KEYSTONE

Einmal geöffnet, verlor die Lieferung aber häufig an Glanz. Nicht selten hatte es mit dem Inhalt zu tun: Verpackungsdienste halten es offenbar für gerechtfertigt, einem einzigen Stirnband eine Kartonschachtel in der Grösse eines Koffers zu widmen. Das Stirnband wanderte in meinen Kleiderschrank, die Schachtel blieb im Wohnzimmer stehen. Meistens dauerte es nicht lange, bis weitere dazukamen. Nun gibt es bekanntlich schönere Einrichtungsgegenstände als einen Stapel Pappkarton. Die Fahrt zum Recyclinghof wurde zum festen Bestandteil meines Sportlerinnenalltags.

«Es gibt Athleten, die jemanden dafür bezahlen, damit er ihre Sachen auf Ebay verkauft.»

Mit der Zeit verschärfte sich die Lage an verschiedenen Fronten. Mein Kleiderschrank wurde immer voller, ebenso der Estrich und der Keller. Ich musste Vakuumsäcke kaufen, um Platz zu schaffen. Und mit dem Materialberg wuchs mein schlechtes Gewissen. Schliesslich war mein Problem an Absurdität kaum zu übertreffen. Wer kann schon darüber klagen, zu viel zu besitzen?

Das Materialproblem ist unter Sportlern kein Geheimnis. Es gibt Athleten, die jemanden dafür bezahlen, damit er ihre Sachen auf Ebay verkauft. Andere beliefern ihre Onkel, Cousinen und Freunde damit.

«Noch heute ist mein Vater beim Joggen angezogen, als wäre er selbst Olympiateilnehmer.»

Ich machte, was man in der Verzweiflung tut: Ich bat mein Umfeld um Hilfe. Meine Mutter organisierte Transporte nach Nepal, damit die Winterkleider dort eine sinnvolle Verwendung finden. Mein Vater opferte sich gleich selber auf: Noch heute ist er beim Joggen angezogen, als wäre er selbst Olympiateilnehmer. Und einige meiner Freunde sehen aus wie ein Double von mir, wenn sie über die Pisten flitzen.

Doch die ganze Last konnten sie mir bei aller Liebe nicht abnehmen. Auf Empfehlung einer Sportkollegin versuchte ich es deshalb mit dem Flohmarkt. Leider entpuppten sich schwitzende Trödler nicht als ideale Zielgruppe für Snowboardmaterial. Ich habe immer noch zu viele Winterjacken, Bretter oder Schuhe. Wer will?

Futtertrieb

Sie nannten mich Anakonda. Kein Kompliment für eine junge Frau, die gerade versucht, ihren Körper für Olympische Spiele zu stählen. Das Tier ist im Querschnitt fast rund, sein Kopf ist auffallend klein, der Teint schimmert immer etwas grünlich.

«Wer sich mit mir an den Tisch setzte, musste sich auf etwas gefasst machen.»

Ich war erlöst, als Freund_innen mich aufklärten, der Spitzname sei nicht durch mein Äusseres bedingt. Vielmehr ginge es um ein auffälliges Verhalten an einem bestimmten Ort: dem Esstisch. Dort verbrachte ich als Sportlerin viel Zeit. Er war die Destination, die ich morgens nach dem Aufstehen auf direktem Weg ansteuerte. Und danach zwei bis fünf weitere Male aufsuchte: für Anakonda-Portionen Vollkornpasta, Hüttenkäse, Gemüse, Früchte, Proteinshakes, Schokolade.

Wer solche Sprünge zeigen will, verhält sich am Essensbuffet mit Vorteil wie eine Anakonda.Bild: KEYSTONE

Wer sich mit mir an den Tisch setzte, musste sich auf etwas gefasst machen. Es zeigte sich, was mit einem passiert, wenn man den Körper im Training täglich an die Grenzen bringt und Tausende Kalorien verbrennt: Kaum auf dem Tisch, erspähte ich die in Töpfen bereitgestellte Beute sekundenschnell und schnappte sie mir. Gnadenlos. Mein Teller war schwer beladen, die anderen mussten sich mit dem Rest begnügen. Das wurde vor allem dann schwierig, wenn Sportler_innen mit mir am Tisch sassen. Wir alle haben einen ausgeprägten Futtertrieb.

«Während meine Freunde im Restaurant einen Salatteller bestellten, breitete der Kellner an meinem Platz einen Viergänger aus.»

Dass dieser nicht der Norm entspricht, wurde mir hingegen bewusst, wenn ich mit Nicht-Sportler_innen speiste. Während meine Freunde im Restaurant einen Salatteller bestellten, breitete der Kellner an meinem Platz einen Viergänger aus. Gewissensbisse musste ich keine haben: Ich betrachtete das Mahl als notwendige Karriereinvestition.

Während meiner Zeit als Sportlerin gab es keinen Moment, in dem ich nicht wusste, was ich als nächstes essen würde. Den Nahrungsmittelvorrat in meiner Küche hatte ich immer bis ins letzte Detail im Kopf, ich konnte jedes Joghurt aufzählen, das im Kühlschrank stand. Eine Heimkehr, ohne sicherzustellen, dass alles da ist für ein reichhaltiges Frühstück? Unvorstellbar.

«Deshalb überwinde ich mich regelmässig zu einem präventiven Schokoladengipfel.»

Dabei konnte ich gar nichts für meine Gier. Ich war dazu erzogen worden: Sportler_innen lernen früh, dass das Essen zum Training gehört wie Aufwärmen und Stretching. Trainer_innen halten in Trainingsplänen fest, wann gegessen wird, manchmal ergänzen Ernährungsberater_innen, wie viel Gramm Kohlenhydrate, Fette und Proteine auf den Teller kommen. Vor Olympischen Spielen wurden wir zu medizinischen Briefings zusammengetrommelt, wo man uns erklärte, dass die richtige Verpflegung im Olympischen Dorf über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Ich solle meinen Hunger sofort stillen, lernte ich. Noch besser: Es gar nicht soweit kommen lassen und präventiv essen. Denn Nahrungsmittelentzug begünstigt Infektionen, und wer krank ist, kann keine Spitzenleistung abliefern.

Diesen Tipp nehme ich mir heute noch zu Herzen. Auch nach der Sportkarriere brauche ich ein intaktes Immunsystem, deshalb überwinde ich mich regelmässig zu einem präventiven Schokoladengipfel. Ich will doch nicht, dass man mir beim Abendessen Ähnlichkeiten mit einer Riesenschlange unterstellt!

Selfie-Stress

Das Smartphone war mein wichtigster Gefährte während meiner Zeit als Sportlerin. Es war das Erste, das ich am Morgen sah. Schon während dem Frühstück belieferte es mich mit News, den ganzen Tag lang schaffte es zuverlässig Meldungen, Fotos, Musik herbei. Es war immer da, wenn ich niemanden zum Reden hatte. Und am Abend blinkte es mir noch einmal zu, bevor ich einschlief.

«Rocky Mountains, es sind Minus 20 Grad, meine tauben Finger umklammern das Smartphone.»

Aber jetzt einmal ehrlich: Es gab viele Episoden mit diesem Gerät, die alles andere als schön waren. Etwa diese: Ich stehe an einem Pistenrand in den Rocky Mountains, es sind Minus 20 Grad, meine tauben Finger umklammern den schwarzen Kasten. Schneekristalle perlen auf dem Bildschirm und auf der Haut. Ich zittere, das Telefon rutscht mir beinahe aus der Hand. Mühevoll halte ich es von mir weg, damit ich mich selber im Bildschirm sehe. Ich forme meinen Mund zu einem Lächeln, dann realisiere ich, dass die Masten der Bergbahn meinen Kopf umrahmen. Die Mundwinkel senken sich, ich muss mich anders positionieren. Ich drehe mich etwas, schaue wieder freundlich in die Kamera. Nun fährt mir hinten ein Skifahrer ums Ohr. Ich drehe mich wieder, so lange, bis hinter mir nur die Bergwelt zu sehen ist. Dann manövriere ich den steifen Finger auf den Auslöser. Klick! Ich schaue total entspannt in die Kamera.

Einfach nur den Zürichsee geniessen? Als Profisportler mit Social-Media-Verpflichtungen fast nicht möglich.

Später sitze ich auf dem Sessellift und suche mit steifen Fingern das Bild aus, auf dem ich am besten aussehe. Ich wähle einen Filter, ändere ihn wieder. Tippe einen Satz ein, ändere ihn wieder. Ich markiere die Sponsoren. Als ich endlich auf «posten» tippe, sind meine Finger knallrot, und ich bin mit den Nerven fertig.

«Social-Media-Pläne, vorgegebene Hashtags, Kampagnen – das gehört heute zum Alltag.»

Wie ich mir in solchen Momenten die Zeit herbeisehnte, in denen es noch keine Mobiltelefone gab, kein Facebook, kein Instagram. Die Zeit, in denen Sportler_innen noch keine Social-Media-Manager sein mussten, sondern einfach ihrem Sport nachgehen konnten, ohne stets darüber zu berichten. Seit einigen Jahren sind die sozialen Medien neben Training und Wettkampf nämlich das Haupttätigkeitsfeld von Sportler_innen, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur die sportliche Leistung, sondern auch die Reichweite und die Eloquenz in den sozialen Medien entscheiden darüber, ob Firmen einen als Werbeträger wählen. In Sponsoringverträgen steht geschrieben, wann und wie die Werbepartner_innen in Beiträgen zu erwähnen sind. Social-Media-Pläne, vorgegebene Hashtags, Kampagnen – das gehört heute zum Alltag.

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Die Schweiz bekommt vielleicht bald ein neues Sportmagazin. Heute, am 27. November, startet das Crowdfunding für «No.1 – Das beste Sportmagazin der Welt». 100'000 Franken will das Team um Christoph Gertsch, Reporter beim «Magazin», innert eines Monats sammeln, um das Projekt zu starten. Mit dabei ist auch Ursina Haller, die uns diese Einblicke zur Verfügung stellte.

«No.1» soll im Herbst 2018 mindestens einmal erscheinen und Geschichten einiger der besten Sportjournalisten und Sportjournalistinnen enthalten. 

Wer das Projekt unterstützen will, kann das ab sofort hier tun.

Sportler_innen reisen nicht mehr alleine an einen Wettkampf oder in ein Trainingslager. Die Follower sind im Kopf immer dabei: Kommen Athlet_innen an einem neuen Ort an, scannen sie diesen sofort auf mögliche Sujets, mit denen sie ihre Fans beliefern können. Das kann verheerende Ausmasse annehmen. Die Social-Media-Ambitionen der Sportler_innen sollen einer der Gründe sein, weshalb Roger Federer jeweils nicht im olympischen Dorf wohnt. Athlet_innen belagern ihn an den Spielen offenbar dermassen für Selfies, dass er es schlicht nicht aushält.

Natürlich sind die sozialen Netzwerke auch eine Chance, gerade für Sportler_innen, die weit vom Bekanntheitsgrad eines Federers entfernt sind. Facebook, Instagram und Twitter bieten ihnen eine Plattform, dank der sie sich eine Fangemeinde aufbauen können. Und auch Sportler_innen, über die in den Medien berichtet wird, profitieren: Auf ihren Profilen können sie ihre eigene Sicht der Dinge darlegen und sich ein Image erschaffen, das unabhängig ist von der Berichterstattung durch Journalist_innen.

Apropos: Seit ich vom Spitzensport in die Medienbranche gewechselt habe, stelle ich fest, dass es sich dort ganz ähnlich verhält mit den sozialen Medien. Zwar habe ich keine Sponsoringverträge mehr, und Selfies sind etwas weniger gefragt. Aber wenn ich will, dass meine Beiträge gelesen werden, tue ich gut daran, sie in den sozialen Netzwerken zu teilen. Wie froh ich bin, dass ich jetzt nicht auf einem Sessellift sitze!

Verkehrssünden

Jahrelang hatte ich ich mich vor diesem Moment gefürchtet. Dann war er plötzlich da: Ich stand auf dem Parkplatz eines Autohändlers und strich meinem Liebling ein letztes Mal über die Haube. Ich verinnerlichte das Gefühl des warmen Stahls unter den Fingern und atmete tief ein. Dann lief ich los in Richtung Bahnhof und schaute nicht zurück. Denn ich wusste: Das, was da funkelnd in der Frühlingssonne stand, wird mir mit grosser Wahrscheinlichkeit nie wieder gehören.

«Am Bahnhof schnürte es mir die Kehle zu. Ich musste den Fahrplan studieren, um nach Hause zu kommen.»

Am Bahnhof schnürte es mir die Kehle zu. Ich musste den Fahrplan studieren, um nach Hause zu kommen. Eine Fahrkarte kaufen. Am Perron warten, mit all den anderen Reisenden. Ein halbes Jahrzehnt lang war mir das erspart geblieben. Öffentliche Verkehrsmittel – als Sportlerin brauchte ich das nicht.

Ursina Haller, Snowboard Halfpipe, posiert am Dienstag, 21. September 2010 in Zuerich. (KEYSTONE/Alessandro Della Bella)
Mit der Vespa war Ursina Haller nicht häufig unterwegs.Bild: KEYSTONE

Wenn ich zum Training oder an Wettkämpfe fuhr, sass ich in einem Cockpit, gepolstert mit feinstem Leder. Eine Stimme in bester Tonqualität wies mir den Weg, auch beim Einparken half sie. Wenn ich wollte, war ich schneller als alle anderen auf der Strasse, ein leichter Stoss am Gaspedal reichte. Und wenn ich im Stau stand, klopften manchmal Unbekannte ans Fenster – wohl in der Hoffnung, im mit Schweizerkreuzen zugepflasterten Auto sitze Lara Gut. So oder so – auch mir wünschte man viel Glück für die nächsten Wettkämpfe.

«Wer keine Top-Resultate liefert, erhält keine neuen Autoschlüssel.»

Das alles gefiel mir. So gut, dass ich selten ohne Auto unterwegs war. Ob zur Physiotherapie, zum Brunch mit Freund_innen oder zur Uniprüfung – ich fuhr bei jeder Gelegenheit im Wagen vor. Nicht ganz ohne Stolz; den Komfort musste ich mir schliesslich verdienen, Saison für Saison. Nur Wintersportler_innen, die in ihrer Disziplin zur Weltspitze gehören, dürfen sich nach der Saison ein Auto vom Verbandssponsor aussuchen und es ein Jahr lang fahren. Wer keine Top-Resultate liefert, erhält keine neuen Schlüssel.

«Ich hatte rund sechs Wochen Zeit, um mich damit abzufinden, dass mein 100’000-Franken-Auto von einem Halbtax abgelöst wird.»

Dasselbe gilt, wenn Sportler_innen zurücktreten. Wenige Wochen nach meinem Abschied vom Wettkampfsport erhielt ich eine Mail: Man müsse das Auto zurückhaben. Ich hatte rund sechs Wochen Zeit, um mich damit abzufinden, dass mein 100’000-Franken-Auto von einem Halbtax abgelöst wird.

Als ich dann zum ersten Mal im Zug sass, war alles halb so schlimm. Ich merkte, wie gut es mir und der Umwelt tut, wenn ich mit meinem Stolz nicht die Luft verpeste. Ich fand heraus, wie toll es ist, im Zug Unbekannte zu beobachten. Und vor allem erfüllte es mich mit einer angenehmen Ruhe, dass das Billett in meinem Portemonnaie mir gehört – für immer.

Dopingprobleme

Als es klingelte, lag ich noch im Bett. In Unterhose und T-Shirt rannte ich zur Tür und drückte den Knopf der Freisprechanlage. Dann hörte ich draussen im Treppenhaus jemanden sagen: «Hallo? Wir sind hier oben!»

«Wer wagt einen Gruppenbesuch an einem Freitagmorgen kurz nach 6?»

Wir? Wer wagt einen Gruppenbesuch an einem Freitagmorgen kurz nach 6? Ich spähte durch das Guckloch. Und da sah ich sie stehen: Zwei Frauen, ein Mann, mit Seitentaschen über den Schultern und Formularen in der Hand.

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Nicht nur in der Halfpipe, auch frühmorgens an einem eigentlich freien Tag haben Spitzensportler Verpflichtungen.Bild: EPA/EPA

Mir wurde beinahe schwarz vor den Augen. Nicht einmal zwei Stunden waren vergangen, seit ich selber durch diese Tür gegangen war. Mein Hirn bastelte undeutliche Bilder zusammen: Ich im Training. Später auf dem roten Teppich der Swiss Snowboard Awards. Ich mit einem Prosecco in der Hand und auf der Tanzfläche. Ich noch später auf dem Heimweg, platt wie ein Brötchen.

«Als WM-Medaillengewinnerin musste ich täglich ein Zeitfenster von 90 Minuten angeben, während dem man mich an einem bestimmten Ort für eine Urinprobe auffinden konnte.»

Dass nun, nur kurz nach diesen Ereignissen, Dopingkontrolleur_innen in meiner Wohnung standen, hatte ich mir selbst zu verdanken. Als WM-Medaillengewinnerin musste ich täglich ein Zeitfenster von 90 Minuten angeben, während dem man mich an einem bestimmten Ort für eine Urinprobe auffinden konnte. Und weil auch Sportlerinnen nicht immer im Detail wissen, wo sie wann sind, machte ich es so wie die meisten: Der Einfachheit halber bestellte ich die Inspekteur_innen frühmorgens zu mir nach Hause.

Als ich die «Whereabouts» so eingerichtet hatte, rechnete ich allerdings nicht mit den Schwierigkeiten, die an jenem Morgen eintraten. Ich musste feststellen, dass ich vor dem Zubettgehen zwar nicht zu wenig Flüssigkeit zu mir genommen hatte. Aber wohl die falsche: Bei diversen begleiteten Toilettengängen lernte ich, dass die harntreibende Wirkung von Prosecco kurzfristiger Natur ist. Es war eingetreten, was ich an diesem Morgen – dem einzigen im Jahr, an dem man mich zu Hause zur Dopingkontrolle bat – am wenigsten brauchen konnte: Die totale Dehydrierung.

«Und so sass ich mit Kopfschmerzen am Küchentisch, vor mir ein grosser Krug Tee, gegenüber drei gesprächige Sportfans.»

Und so sass ich mit Kopfschmerzen am Küchentisch, vor mir ein grosser Krug Tee, gegenüber drei gesprächige Sportfans, die nebenberuflich für Antidoping Sportler_innen kontrollieren. Drei! Eigentlich kam jeweils nur eine Person zum Überraschungsbesuch. Aber an diesem Tag waren zwei Lernende dabei, die nun auch auf ein Lebenszeichen meiner Blase warteten. Normalerweise, soviel wussten sie bereits, dauere die Abgabe der Probe nicht länger als eine halbe Stunde.

Wie lange es gehen kann, wenn es nicht normal läuft? Nur so viel: Es war beinahe Mittag, als ich völlig erschöpft und mit einem gluckernden Bauch zurück ins Bett kroch. Das Leben als Sportlerin kann unfassbar ermüdend sein!

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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hieronymus Bosch
27.11.2017 19:27registriert April 2017
Beim 37sten "_innen" im 2. Absatz ist mir das Nachtessen hochgekommen. Kann jemand einen TL;DR posten bitte?
1307
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Zum Kommentar
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dechloisu
27.11.2017 15:41registriert November 2016
Ich nehm ein Board, danke ;P

Natürlich denkt man nur an das Schillernde an einem Sportler, aber sind wir ehrlich, ist die schwierigste Frage nicht - Was kommt nach der Karriere
891
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Zum Kommentar
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Pegi9999
27.11.2017 15:51registriert November 2016
Super Artikel!
5310
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Zum Kommentar
15
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Kommt es elf Jahre nach dem Final zwischen Bayern München und Borussia Dortmund im Wembley zur Neuauflage am gleichen Ort? Klar ist: Die Engländer haben kein Team mehr, das die «Königsklasse» gewinnen kann.

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