15 Dopingsünder wurden an den Olympischen Sommerspielen 2012 in London erwischt. Sieben von ihnen kamen aus Ländern, die früher einmal zur Sowjetunion gehört hatten. Das ist vermutlich kein Zufall: Es ist kein Geheimnis, dass die einstige östliche Supermacht Staatsdoping betrieb. Zumindest Russland hat, wie sich jetzt zeigt, diese ungute Tradition weitergeführt oder wiederaufgenommen.
Unter Putin, schreibt die Autorin Sonja Margolina in der NZZ, sei der Sport «erneut zu einem Vehikel gesellschaftlicher Mobilmachung und medialer Selbstinszenierung als Weltmacht geworden». Auch die Sowjetunion hatte den Medaillenspiegel benutzt, um aller Welt die Überlegenheit des sozialistischen Systems vor Augen zu führen.
Anfänglich hatte die UdSSR die Olympischen Spiele noch links liegen lassen. Erst 1952 in Helsinki nahmen erstmals sowjetische Sportler an den Spielen teil – und fuhren gleich mit der zweithöchsten Anzahl Medaillen nach Hause. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 holten ihre Athleten nicht weniger als 1204 olympische Medaillen – was bis heute noch Platz zwei hinter den USA bedeutet.
Kein Wunder, dass nicht nur Experten vermuteten, da werde kräftig – und illegal – nachgeholfen. Das galt auch für die DDR, die als sportliche Grossmacht von 1956 bis 1988 sage und schreibe 572 Medaillen einheimste. Spätestens seit Mitte der 70er-Jahre wurde dort flächendeckend gedopt; Sporthistoriker sprechen von einem «konspirativen Zwangsdoping in staatlichem Auftrag».
Berüchtigt ist die Antwort eines Sportfunktionärs, als sich ein Journalist über die tiefe Stimme der Schwimmerin Kornelia Enders wunderte: «Sie soll ja schwimmen und nicht singen.» Aufgedeckt wurde das staatlich verordnete Doping nach dem Zusammenbruch der DDR durch Geheimdokumente.
Im grossen Bruderstaat Sowjetunion griff man, besonders in den 70er- und 80er-Jahren, ebenfalls zu leistungssteigernden Substanzen. Dieses Staatsdoping nachzuweisen war allerdings keineswegs einfach, denn die sowjetischen Forschungslabors waren streng geheim. Laut dem Sportwissenschaftler Michael Kalinski, der von 1972 bis 1990 am staatlichen Institut für Körperkultur in Kiew tätig war, wurde in der Sowjetunion intensiv an den «medizinischen und biologischen Aspekten des Sports» geforscht. Die Befehle dazu seien geheim gewesen, sagte Kalinski der «Moscow Times».
Die sowjetischen Forscher entdeckten zum Beispiel, dass Kreatin – das nicht auf der Liste der verbotenen Substanzen steht – die Leistung eines Läufers auf der 100-Meter-Strecke um 1 Prozent, auf der 200-Meter-Strecke um 1,7 Prozent verbesserte. Die Sportwissenschaftler begnügten sich jedoch nicht mit Kreatin, sondern betrieben auch staatlich subventionierte Forschungen zur Perfektionierung des Blutdopings – das nach wie vor verboten ist.
Für die Olympischen Spiele von Montreal 1976 und Moskau 1980 hätten Sportler mehrerer Disziplinen – darunter Schwimmer, Radfahrer und Ruderer – systematisch Blutdoping betrieben, sagt der Biochemiker Nikolai Wolkow. Die Wissenschaftler übergaben die Dopingmittel den Trainern, die unter enormem Druck der Kommunistischen Partei standen, Gewinner zu produzieren.
Bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul sollen die Sowjets sogar ein geheimes Analyse-Labor auf einem 60 Kilometer vor der Küste vor Anker gegangenen Schiff eingerichtet haben, das «besser bewacht war als der Reaktor auf einem Atom-U-Boot», wie die «Los Angeles Times» schreibt.
Neben Blutdoping und hormonellen Manipulationen wurden vornehmlich Anabolika eingesetzt. Dass anabole Steroide schon vor 1972 zum Standard-Repertoire der sowjetischen Sportmediziner gehörten, belegt ein Papier, das im Jahr 2002 in der «Zeitschrift für Sportmedizin» veröffentlicht wurde. Es fasst Daten aus geheimen sowjetischen Dokumenten zusammen, die Empfehlungen zum Einsatz von Anabolika enthielten.
Aus diesen Dokumenten wird zudem ersichtlich, dass die sowjetischen Doping-Forscher keine Rücksicht auf ihre Probanden nahmen. Kalinski stellte dazu fest: «Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass irgendeine der erwähnten Untersuchungen den allgemeinen ethischen Richtlinien für Humanversuche entsprach.»
Bis 1985 wurde denn auch der vorzeitige Tod von fast 50 sowjetischen Topathleten im Westen bekannt. Nicht alle diese Sterbefälle müssen notgedrungen mit Doping zu tun haben, doch allen gemeinsam war «jahrelange pharmakologische Behandlung und frühes Lebensende», wie der «Spiegel» schreibt.
Während der «Blütezeit» des sowjetischen Dopingsystems waren es lediglich überführte Dopingsünder, die indirekte Rückschlüsse auf das Staatsdoping in der Sowjetunion zuliessen. Verdächtig war in diesem Zusammenhang auch, wenn sich sowjetische Sportler kurzfristig abmeldeten, sobald unerwartete Dopingkontrollen drohten.
1982 geschah dies im Vorfeld der Leichtathletik-Europameisterschaften in Athen: Kurz vor Beginn meldeten die Sowjets nach dem prophylaktischen Test 26 Teilnehmer wieder ab – sie waren bereits im gedruckten Programm aufgelistet. Bei den Olympischen Winterspielen in Calgary 1988 musste sich der Nordische Kombinierer Allar Levandi auf Befehl seiner Trainer zurückziehen: «Du hast plötzlich fürchterliche Bauchschmerzen gekriegt, verstanden?»
Dazu passt auch eine Anekdote, die der russische Sportkommentator Gennadi Orlow zum Besten gab: Als er in den 80er-Jahren einer Russin, die überraschend Bronze im Eisschnelllauf gewonnen hatte, gratulieren wollte, sagte sie: «Ich kann mich erst freuen, wenn ich durch die Dopingkontrolle bin.»
Gegen Ende der 80er-Jahre erreichte Gorbatschows Politik von Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) auch die sowjetische Sportwelt. Mit dem Untergang der Sowjetunion wenig später brach auch das sowjetische Sportsystem mit seiner Doping-Abteilung zusammen. Wie sich jetzt zeigt, erstreckt sich die Renaissance der Sowjetunion in Putins Russland auch auf diesen wenig rühmlichen Bereich.