Der beste Matthias Sempach aller Zeiten? Gegen diese Einschätzung regt sich schwingerischer Widerspruch. Er hat ja vor einem Jahr bei der Thronbesteigung zu Burgdorf insgesamt tatsächlich besser geschwungen. Aber noch nie war er so nervenstark, schlau und effizient wie beim Kilchberger Schwinget 2014. Er ist nach Ernst Schläpfer (König 1983, Kilchberg-Sieger 1984) erst der zweite amtierende König, der auch die Eidgenössische Revanche in Kilchberg gewonnen hat.
Der Auftakt missglückt dem König. Nur ein Unentschieden mit der Minimalnote 8,75 gegen Andreas Ulrich. Bei der enormen Leistungsdichte am Kilchberg hätte das bereits Schlussgang und Festsieg kosten können. Der Erfolgsdruck ist fortan maximal.
Matthias Sempach, dem einst Nervenschwäche vor den grossen Triumphen stand (sonst wäre er wohl schon zweimal König geworden), hält diesem ultimativen Druck stand und in den zwei letzten Kämpfen – gegen Christian Schuler im 5. Kampf und gegen Philipp Laimbacher im Schlussgang – haben wir den besten Matthias Sempach aller Zeiten gesehen.
Gegen Christian Schuler geht es um den Einzug in den Schlussgang. Der wehrhafte Innerschweizer fällt nach einem Kurzzug wie vom Blitz getroffen. Diese Kraftentfaltung des Königs ist wie ein Naturereignis – und Schuler wird zornig. Erst zeigt er seinen Unmut mit wegwerfenden Gesten unmittelbar nach dem Kampf, dann sagt er, was ihm missfallen ist: «Ich hatte links noch gar nicht Griff gefasst, als Sempach zog.»
Dazu muss man wissen: Die Schwinger fassen vor dem Kampf Griff. Mit der rechten Hand am Gurt und mit der linken Hand an der Hose des Gegners. Wenn beide Kämpfer Griff gefasst haben, sagt der Kampfrichter «Gut» und erst dann wird gezogen.
Hat also Matthias Sempach gemogelt und sozusagen mit einem «Frühstart» seinen Gegner überlistet? «Nein», sagt mit Otto Seeholzer ein wahrlich kompetenter Analytiker. Der ehemalige Kranzschwinger ist langjähriger Ausbildner beim Schwingklub Kirchberg, dem Klub von Matthias Sempach. Und damit ein intimer Kenner der königlichen Kampfweise.
«Er hat tatsächlich blitzschnell gezogen», sagt Seeholzer. «Aber nicht zu früh. Er hat sich so hingestellt, dass er dem Kampfrichter ins Gesicht sehen konnte. Sobald der Kampfrichter die Lippen bewegte, hat er gezogen. Sekundenbruchteile bevor dann beide tatsächlich das ‹Gut› des Kampfrichters hören konnten.» Der König war also im wahrsten Wortsinne schneller als die Schallgeschwindigkeit.
Damit steht der Matthias Sempach im Schlussgang. Aber gegen wen? Das Einteilungskampfgericht hat drei «Böse» zur Auswahl, die bei Punktgleichheit sportlich alle drei für die Endausmarchung qualifiziert sind. Der Berner Thomas Sempach, der kleine Cousin des Königs, und die beiden Innerschweizer Christian Schuler und Philipp Laimbacher.
Bei einem Fest auf Eidgenössischer Ebene wird ein Schlussgang zwischen zwei Vertretern des gleichen Teilverbandes vermieden. Damit ist Thomas Sempach aus dem Rennen. Christian Schuler hat seine Schlussgangchance im fünften Gang gegen den König bereits gehabt und verpasst. Er wird ebenfalls nicht zugelassen.
Zum Schlussgang tritt Philipp Laimbacher an. Er hat zwar im dritten Gang gegen den König verloren, bekommt nun aber auch seine Schlussgangchance. Aber er hat gar keine. Denn der König zelebriert das beste Finale seiner Karriere.
So wuchtig und zielstrebig hat Sempach in einem Schlussgang noch nie einen Gegner abgeräumt. Und zwar einen ganz bösen Gegner. Der zähe und erfahrene Philipp Laimbacher ist vierfacher Eidgenosse und der stärkste, konstanteste Innerschweizer der letzten zehn Jahre. Keck betritt er vor dem König den Sägemehlring und demonstriert so Selbstvertrauen.
Aber den König kann er so nicht aus dem Konzept bringen. Der böseste der Bösen kommt rasch und zielstrebig in den Ring, packt fest an und dann geht es blitzschnell: Mit einem «Sempach-Spezial» schmettert er Laimbacher nach fünf (!) Sekunden auf den Rücken.
Der «Sempach Spezial» ist nach dem Lehrbuch ein «Brienzer», ein Schwung, der eine Kombination aus Kraft, Beweglichkeit und Gespür verlangt. Angesetzt, ausgeführt und königlich vollendet in sieben Sekunden. Auch das fast so schnell wie die Schallgeschwindigkeit. Jedenfalls ist dem Gegner hören, sehen und wehren vergangen.