Schon gestern deutete in New York vieles auf ein spannendes Finale der Schach-WM hin. Vor dem zwölften und letzten Spiel stand es 5,5:5,5 – der Sieger des entscheidenden Spiels würde sich also Weltmeister nennen können. Es konnte also nichts anderes als ein episches Duell geben.
Konnte es wohl. «Die langweiligste aller langweiligen Langweilervarianten» nannte beispielsweise Die Zeit, was die beiden Kontrahenten ablieferten. Titelverteidiger Carlsen und Herausvorderer Karjakin lieferten sich ein unromantisches Gemetzel, das bereits nach 36 Minuten (WM-Minusrekord) und dem 30. Zug zu Ende war. Früher darf man sich gemäss Regelwerk nicht auf ein Unentschieden einigen.
«Ich entschuldige mich bei den Fans, die ein längeres Spiel wollten – es hat nicht sollen sein», meinte Carlsen danach. Es sei nicht der Zeitpunkt gewesen, um alles zu riskieren. Am Norweger wäre es gewesen, mit den weissen Figuren den Sieg zu suchen. Dem Schachgenie, das praktisch andauernd an seinen Sport denkt und deshalb oft keinen Schlaf findet, war es aber lieber, sich auf die Kurzentscheidung am Mittwoch zu verlassen, insbesondere weil es für ihn ein ganz spezieller Tag werden wird: Es ist Carlsens 26. Geburtstag.
Karjakin, der bereits seit Januar 26-jährig ist, war das Remis ebenfalls recht. Für den Aussenseiter, der die Schachkrone quasi traditionsgemäss wieder nach Russland holen soll, ist das 6:6 bereits als Erfolg zu werten, vor allem weil er mit dem Sieg in der achten Partie gar in Führung gehen konnte. Favorit Carlsen konnte im zehnten Spiel aber wieder ausgleichen (alle anderen zehn WM-Partien endeten remis). Der aus der Ukraine stammende Vater eines Sohns rechnet sich im Tiebreak ebenfalls Chancen aus. Karjakin ist vom Typ her mit Stan Wawrinka zu vergleichen: Er ist zwar «nur» die Nummer 9 der Welt, pflegt aber dann am besten aufzuspielen, wenn es um viel geht.
Während früher bei einem Unentschieden der Titelverteidiger als Sieger ausgerufen wurde, wird die Schach-WM seit 2006 ausgespielt und zwar in mehreren Stufen. Am Mittwoch folgen also erst vier Partien Schnellschach (je 25 Minuten Bedenkzeit). Ist dann die Entscheidung immer noch nicht gefallen, folgen im Maximum fünf Zweierserien Blitzschach (je 5 Minuten Bedenkzeit). Enden tatsächlich auch alle dieser Serien unentschieden, entscheidet eine allerletzte Partie Blitzschach über den Titel und zwar im Armageddon-Modus. Will heissen: Schwarz hat dann nur vier Minuten Bedenkzeit, gewinnt dafür bei einem Remis.
Im Gegensatz zu den bisherigen Partien, die auch gerne sechs Stunden und mehr dauern konnten, ist also Action garantiert. An der Favoritenlage ändert sich indes nichts. Magnus Carlsen ist neben der Nummer 1 im klassischen Schach auch die Nummer 1 im Schnellschach (Weltmeister 2014 und 2015) und die Nummer 2 im Blitzschach (Weltmeister 2009 und 2014) – also sozusagen der Roger Federer (der Nuller-Jahre) des Schachs. Karjakin hat da nur die Nummer 11 im Schnellschach entgegenzuhalten, in dem er 2012 Weltmeister wurde – im Final gegen Carlsen.
Für Karjakin spricht, dass er in den bisherigen Direktduellen im Schnellschach den sechs Gewinnpartien des Norwegers immerhin seinerseits vier entgegenhalten kann (Gewinnpartien im klassischen Schach: 2:5). Ausserdem ist er im Schachzirkel für starke Nerven bekannt. Aber halten sie im wichtigsten Spiel seiner bisherigen Karriere gegen den nach ELO-Wertung besten Spieler aller Zeiten?