Unspunnen 2017. Die kreativsten Köpfe der besten Werbebüros der Welt wären nicht dazu in der Lage, einen auch nur annähernd so guten Werbespot über die Schweiz zu produzieren.
Das friedliche Fest. Das Wetter, nicht strahlend schön, immer ein paar zur Demut mahnende Wolken am Himmel. Die Kulisse mit den Bergen, Wäldern und Silhouetten der Luxushotels. Alles wunderbar besungen, bejodelt und bealphornt.
Ein grosses Fest. 15'800 Zuschauer. Aber nicht zu gross. Grad in der richtigen guthelvetischen Dimension, die Platz für Bescheidenheit lässt und niemanden hoffärtig werden lässt. Ohne die brummende, tosende Vermarktung und dem inzwischen fast an olympischen Gigantismus mahnenden, immer grösseren Rahmen eines Eidgenössischen Schwingfestes.
Wahrlich, der «Mythos Unspunnen» lebt und seine Erfinder hätten es sich zu Beginn der 1800er Jahre nicht träumen lassen, dass ihre Idee Jahrhunderte und alle politischen Stürme überstehen und auch noch im 21. Jahrhundert eine so starke politische, kulturelle und sportliche Ausstrahlung in der Schweiz des 21. Jahrhunderts haben würde.
Unspunnen wurde von unseren Vorvätern erfunden, um unser Brauchtum zu pflegen, Stadt und Land zusammenzuführen und in unsicheren Zeiten eine Identität zu stiften. Genau das war Unspunnen auch 2017. Und natürlich war es auch Sport. Grosser, dramatischer Sport.
«Unspunnen 2017» hat auch auf begeisternde Art und Weise die dynamische Entwicklung des Schwingens bestätigt. Könige sind gefallen wie Knechte und am Ende triumphierte mit dem sanften Titan Christian Stucki einer, der noch nie auf dem Thron sass, aber als «König der Herzen» der populärste «Böse» aller «Bösen» ist.
Dass auch mächtigen sportlichen Königen die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dass am Ende jener einen dramatischen Schlussgang gewinnt, den wir nicht nur respektieren und bewundern, sondern vor allem wegen seiner gemütlichen Art mögen: Das gefällt uns freien Schweizern ja mindestens so gut wie schönes Brauchtum.
Nur der «König der Herzen» ist stehen geblieben. Christian Stucki (32), der Titan mit dem weichen Herzen. Er hat als erster Berner seit 30 Jahren Unspunnen gewonnen. Der letzte war 1987 Niklaus Gasser.
Nach Kilchberg 2008 triumphierte Christian Stucki zum zweiten Mal bei einem Fest mit eidgenössischem Charakter. Also mit allen Bösen des Landes. Nun ist ihm auch ohne Königstitel ewiger Ruhm sicher. Nicht einmal die Könige Karl Meli, Rudolf Hunsperger und Ernst Schläpfer haben Unspunnen und Kilchberg gewonnen.
Ja, Christian Stucki hat die Berner vor einer Demütigung sondergleichen bewahrt. Sie beginnen nämlich dieses Fest mit Karacho. Christian Stucki braucht gegen Titelverteidiger Daniel Bösch und Marcel Mathys nicht einmal eine Minute zur Maximalnote. Nach zwei (von sechs Gängen) finden wir in der Rangliste unter den ersten neun nicht weniger als sechs Berner.
Die Diskussionen drehen sich nicht mehr darum, ob die Schmach von 2011 (als die Berner nach drei Gängen schon keine Chance mehr auf den Festsieg hatten) getilgt wird. Der Sieg scheint sicher. Die Frage ist nur noch, an wen er fallen würde. An die Könige Matthias Sempach und Kilian Wenger? Oder doch eher an Christian Stucki? Und die Kenner diskutieren bereits, ob das Einteilungskampfgericht mangels konkurrenzfähiger Gegner gar schon im dritten oder doch spätestens im vierten Gang Berner gegen Berner antreten lassen muss.
Und dann geht das bernische «Königreich der Bösen» nach der Mittagspause innert ein paar Minuten beinahe unter. Die Könige fallen auf einmal wie Knechte. Gleich nacheinander verlieren die Könige Kilian Wenger (gegen Armon Orlik) und Matthias Sempach (gegen Reto Nötzli) und sind aus dem Rennen.
Aber Christian Stucki bleibt stehen. Er siegt auch im dritten und im vierten Gang und sichert sich mit einem «Gestellten» gegen den wehrhaften Sven Schurtenberger im fünften Durchgang die Qualifikation fürs Finale.
Dieser Schlussgang gegen den «Papier-Berner» Curdin Orlik gerät zum Drama. Erst knapp eine Minute vor Ablauf der Kampfzeit gelingt ihm unter Aufbietung aller seiner urweltlichen Kräfte doch noch, seinen Gegner zu bezwingen. Schon beginnen die verzagten unter seinen Anhängern zu resignieren. Nein, es reicht nicht mehr. Und dann folgt sozusagen ein schwingerisches Naturereignis: Welch ein Bild, wie der wahrscheinlich kräftigste Mann des Landes mit einer letzten, gewaltigen Willensanstrengung doch noch den grossen Triumph erringt. Im Falle eines Unentschiedens hätte Joel Wicki den Festsieg geerbt.
Christian Stucki ist ein Titan mit einem sanften Gemüt über den sein Lehrer Hansjörg Wegmüller (7. Bis 9. Klasse) einmal gesagt hat: «Christian überragte alle anderen um mehrere Kopflängen. Er war aber immer sehr rücksichtsvoll gegenüber allen Mitschülern. Auch bei Ballspielen. Oft verzichtete er auf den eigenen Vorteil. Sowieso war er gegenüber Kleineren und Schwächeren immer behilflich. Hob die Kleinen sogar auf eine Mauer, damit er mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren konnte. Christian war ein sympathischer, guter Schüler und so bescheiden, dass er seine Erfolge bei den Jungschwingern nie erwähnte.»
So wie er als Schüler war, so ist er auch heute noch, mit 32 Jahren und längst zum Titanen von 198 Zentimetern Grösse und gut und gerne 150 Kilo Gewicht herangewachsen. Dass er noch nie König war, dürfte seine Ursache in eben dieser Art haben: Der ultimative Ehrgeiz, die königliche Verbissenheit ist nicht seine Sache. Und er sagte gestern deshalb auch, dass der Schlüssel zum Erfolg eine Zielstrebigkeit war, um die er sich gerade in dieser Saison bemüht habe. Und wie es seine Art ist, hat er gleich nach dem wohl grössten Triumph seiner Karriere seinen Gegner gewürdigt und zur starken Leistung gratuliert. Und auf die Frage, was er nun tun werde, entgegnete er, so typisch «Stucki Chrigu»: «Jetzt gehe ich erst einmal duschen …»