Wer sich mit der Bevölkerungsentwicklung in den kommenden Jahrzehnten beschäftigt, bewegt sich auf dünnem Eis. Das zeigen allein schon zwei Aussagen der letzten Wochen. «In einigen Jahrzehnten wird sich die Zahl der Menschen auf dem Raumschiff Erde stabilisieren», sagte der grüne Nationalrat Balthasar Glättli jüngst im Gewerkschaftsblatt «syndicom» (Oktober 2014). Glättli kämpft, auch mit seinem Buch «Die unheimlichen Ökologen», gegen die Ecopop-Initiative. Uno-Experten legten im September ganz andere Zahlen vor: Mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit werde die heutige Weltbevölkerung von 7,2 Milliarden Menschen bis Ende des Jahrhunderts weiter anwachsen, und zwar auf eine Anzahl zwischen 9,6 bis 12,3 Milliarden. Damit werden die Zahlen gegenüber früheren Berechnungen deutlich angehoben, neueren Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung sei Dank.
Die UNO-Berechnungen wurden auch in Schweizer Medien verbreitet. Ecopop hat sie unter dem Titel «UNO erwartet Weltbevölkerungsexplosion» selbstverständlich in ihre Abstimmungskampagne integriert. Kaum etwas hat man jedoch darüber gelesen, dass sowohl die Zahlen wie auch die Methode der Vereinten Nationen von namhaften anderen Demographen bestritten werden. Der Leiter des Weltbevölkerungsprogramms am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Wolfgang Lutz, wirft der UNO auf «Spiegel Online» vor, sie wende «ein blindes statistisches Verfahren mit vielen methodischen Fragezeichen» an. Lutz bemängelt, dass die UNO-Prognose lediglich Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreibt.
Die IIASA hat ebenfalls im September eigene Prognosen publiziert. Im Gegensatz zu jenen der UNO zeigen die Zahlen der IIASA einen Anstieg der Weltbevölkerung auf 9,2 Milliarden bis 2050, eine Spitze von 9,4 Milliarden ungefähr 2070 und eine langsame Abnahme auf 9 Milliarden Menschen bis zum Ende des Jahrhunderts als wahrscheinlichste Variante. Die IIASA-Berechnungen basieren auf über 550 weltweiten Expertengutachten, die ihrerseits einem Peer-Review-Verfahren unterzogen wurden, einer Zweitmeinung unabhängiger Gutachter. Die UNO dagegen wende dieses Verfahren nicht mehr an und sei auf ein rein statistisches Verfahren der Fortschreibung ausgewichen.
Die UNO-Prognose wie auch jene der IIASA betrachten die Bildung als zentralen Faktor zur Senkung der Geburtenrate. Nur ist dieser Faktor bei der UNO-Studie gar nicht eingebaut worden. IIASA dagegen berücksichtigt die Entwicklung des Bildungsstandes und gewichtet das Bildungsniveau zusätzlich nach Alter und Geschlecht.
Gezeigt wird dieses Verfahren am Beispiel Nigeria. Während die UNO diesem afrikanischen Land eine Bevölkerungsentwicklung von 160 Millionen Menschen (2010) auf 914 Millionen für das Jahr 2100 prognostiziert, kommt die IIASA-Studie auf nur 576 Millionen bis zum Ende des Jahrhunderts. Der Grund: Nigeria hat in den letzten Jahren signifikante Fortschritte bei der Schulbildung der Mädchen gemacht. Heute haben bereits 50 Prozent der nigerianischen Frauen in der Altersstufe zwischen 20 und 24 die Sekundarstufe durchlaufen, während es in der Altersstufe 40 bis 44 erst 25 Prozent sind. Weil besser gebildete Frauen konstant tiefere Fruchtbarkeitsraten (Anzahl Kinder pro Frau) aufwiesen, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Geburtenrate bei zunehmender Schulbildung abnehme: «Wer diesen wichtigen Strukturwandel nicht berücksichtigt, kommt automatisch zu einem höheren Bevölkerungswachstum.»
Mit manchen gängigen Vorstellungen rund um die Bevölkerungsentwicklung räumt auch der schwedische Medizinprofessor, Statistiker und Demograph Hans Rosling auf. In einem BBC-Beitrag mit dem Titel «Don’t panic: The Facts about population» erklärt Rosling, dass die Anzahl der Kinder weltweit nicht mehr wachse und konstant bleibe. Seine Argumentationskette: Vor 50 Jahren betrug die weltweite durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate fünf Kinder. Diese wichtigste Kennziffer der Demographie ist in der Zwischenzeit global auf 2,5 gefallen. Sie fiel und fällt dort deutlich, wo der Bildungsgrad der Frauen gestiegen, die extreme Armut gesunken, der Zugang zu Verhütungsmitteln besser geworden und die Kindersterblichkeit zurückgegangen sei.
Die demographischen Konsequenzen seien verblüffend. In den vergangenen zehn Jahren sei die Anzahl der Kinder bis 14 Jahre konstant bei rund zwei Milliarden stehengeblieben. Auch die UNO-Bevölkerungsexperten gingen davon aus, dass es bis Ende des Jahrhunderts so bleiben werde. Man habe also den so genannten Peak Child erreicht. Das Bevölkerungswachstum dauere noch an, bis diese Peak-Child-Generation erwachsen und alt geworden sei; bis dann müsse man zwar noch mit einem Zuwachs an erwachsenen und alten Personen von drei bis vier Milliarden rechnen. Aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts schwäche sich das Bevölkerungswachstum markant ab.
Wer in Fragen der Bevölkerungspolitik mitreden will, sollte die Videos von Hans Rosling ansehen, schon allein deshalb, weil es kaum eine lebendigere und witzigere Statistikpräsentation gibt.